Porträt

Am Anfang ist das Wort. Nur will es erstmal nicht heraus. Dennis schielt den Bleistift vor sich an, schnippt einen Krümel vom Tisch. Eigentlich soll die Tischgruppe hinten links, sollen die vier Schüler hier im Klassenraum der 7b, argumentieren üben. Doch das Thema „Ist Lesen nicht mehr trendy?" trifft wohl nicht Dennis’ Nerv. Lustlos wippt er auf seinem Stuhl. Da horcht er auf. „Ist doch viel zu anstrengend, ein Buch aufzuschlagen", grinst ihn Maik an. „Im Internet gibt es Filme über alles." Dennis gibt sich einen Ruck. „Ach", sagt er gedehnt und beugt sich vor, „zum Anklicken solcher Filme musst du also nicht lesen können?"

So also läuft der Deutschunterricht an der gebundenen Ganztagsschule Johannes Gutenberg in Wolmirstedt. In festen Tischgruppen lernen die Schüler, nach dem Prinzip der Leistungsheterogenität zusammengesetzt. Und heute ist es der lernschwache Maik, der Klassenprimus Dennis aus seiner Lethargie reißt. Im Stakkato schreiben beide nun gemeinsam mit ihren Mitschülerinnen Petra und Nicole Argumente auf. Den Pausenruf überhören sie nahezu. Rektor Helmut Thiel lächelt. „Schule heißt für uns, dass wir uns alle gemeinsam weiterbilden – Schüler und Lehrer, als würden wir in einem Feuer die Flammen hochpusten". In der Gutenbergschule in Wolmirstedt, 15 Kilometer nördlich von Magdeburg, lodert es gewaltig.

Eine beeindruckende Entwicklung hat die ehemalige Polytechnische Oberschule „Wladimir Iljitsch Lenin" hingelegt. 1981 wurde sie erbaut, seit 1985 stand Thiel ihr vor. Dem Mauerfall folgte eine „tolle Zeit", erinnert sich Thiel, als er den in hellen Pastellfarben getauchten Schulflur entlangschreitet. „Bis 1991 besuchten wir zig Schulen, suchten kreative Ideen." Den sich aufdrängenden Problemen – Rückgang der Schülerzahlen, Erschütterung der Sozialstrukturen – begegnete die Schule mit dem Versuch, stetig ihre Qualität zu verbessern. Thiel sagt es etwas trocken: „Wir analysieren halt und suchen dann nach Lösungen." Die Gutenberger machten sich auf einen Weg, dessen Ende auch heute nicht absehbar ist. Sie stellten sich im Laufe der Jahre externen Überprüfungen, luden Experten ein, setzten Anregungen um. Mit Erfolg: Längst nicht alle gemeldeten Kinder kann sie aufnehmen. Über 90 Prozent der Schüler erreichen einen Realschulabschluss. Zwanzig Prozent der Abgänger wechseln aufs Gymnasium, nur zwei Schüler haben seit 1996 dort keinen Abschluss geschafft. Und die PISA Lernergebnisse zeigen die Schule im Trend der Landesgymnasien. Einen Grund für die guten Schülerleistungen sieht Thiel in einer Neuerung seit 2006: dem Selbstorganisierten Lernen (SOL).

Am lautesten an diesem SOL ist die Stille. Wie vertieft die Schüler an ihren Aufgaben sitzen, wie bei einer Klausur – nur viel entspannter. Sarah, 12, zieht einen Knopfhörer aus dem rechten Ohr. „Ich konnte die Klasse überzeugen, dass ich bei Musik besser lerne", sagt sie, geht an die Tafel. „Weiß jemand, was 'my hobby by heart' heißt?", schreibt sie mit Kreide. Nach einer halben Minute setzt ihr Mitschüler Sascha die Antwort darunter. SOL findet statt zur Primetime, jeden Tag in der dritten und vierten Stunde, ein Filetstück im Stundenplan bei allgemein höchster kognitiver Leistungsfähigkeit. „Wir merken, wie die Lernleistung insgesamt durch das SOL gestiegen ist", flüstert Thiel. In den 90 Minuten setzen sich die Schüler an Pflichtaufgaben aus allen Fächern. Zusätzlichen Wahlaufgaben stellen sie sich selbst und wählen dabei den Schwierigkeitsgrad. In einem Lernplaner, einem grünen Büchlein, dokumentiert jeder seinen Lernfortschritt.

Draußen auf dem Flur geht das selbstorganisierte Lernen weiter. Tische stehen neben Gummibäumen und Yuccapalmen, an ihnen emsiges Lernen. Auch in der „Futterluke", der Mensa, sitzen Schüler hinter Büchern. „Darf ich mal euren Ausweis sehen", sagt Thiel und setzt ein strenges Gesicht auf. Nils und Kevin zücken eine grüne Lichtbildkarte. Wer sich „verantwortlich" verhält, darf während der SOL-Einheiten in der Mensa arbeiten, noch beliebter seien nur die Lerninseln auf dem Hof, sagt Kevin und zuckt mit den Schultern: Regenschauer peitschen ans Fenster. Die Holzpavillons draußen mit den Tischbänken trotzen verwaist einem strengen Westwind. Nils zieht sich die Schirmmütze nach hinten. „Dass wir in der Futterluke lernen können, haben wir gegen die Lehrer durchgesetzt." Thiel räuspert sich. Nun ja, man habe im Kollegium halt Bedenken gehabt, sagt er, wegen der Aufsicht und den Getränkeautomaten. Nils grinst. „Die Lehrer haben dann Zeit erhalten, mal nachzudenken."

So läuft das in Wolmirstedt. Die Schulkonferenz, bestehend zu je einem Drittel aus Schülern, Eltern und Lehrern, setzte sich über die Bedenken der Pädagogen hinweg. Eine doppelte Stimme hat Thiel nicht. Und ist darüber froh. „Die Mensa hat sich als ein ausgezeichneter Lernort erwiesen", sagt er. „Man lernt ja nie aus." Jede Neuerung im Unterricht geht diesen Weg. Eine Klasse prüft eine Anregung im Pilotprogramm, dann entscheidet die Konferenz für die ganze Schule – alle Gruppen sind beteiligt.

Die SOL-Einheit der Schüler nutzen die Lehrer der Klasse 9a zu einer „Kommunikationsstunde". Sie beraten, wer welche Stunden für die Lernwerkstatt „Leonardo da Vinci" verwendet. „In Hauswirtschaftslehre könnten wir Rezepte aus der Renaissance nachkochen", schlägt Iris Nickel vor. „Allerdings kenne ich nicht die alten Maße, wäre das etwas für den Matheunterricht?" Birgit Schellhase nickt. Quer durch alle Fächer sprechen sich die Pädagogen über ihren Zugang zum Phänomen da Vinci ab. Die Kommunikationsstunde ist fester Bestandteil des in Viertelstunden getakteten Stundenplans. Er erlaubt mehr Flexibilität als die klassische Dreiviertelstunde. Auch „Sorgenfälle" kann das Lehrerteam schnell erörtern. Seit zehn Jahren gibt es keinen Abbrecher und keine erzwungene Wiederholung mehr. Vorausschauend organisieren die Lehrer für versetzungsgefährdete Schüler drei Ferienakademien im Jahr.

Mindestens zwei Wochen im Jahr bringt jeder Lehrer in die Akademien ein, für den Einzelunterricht. „Das ist einfach Solidarität", sagt Thiel. Auch das ist Wolmirstedt: Wertvolle Elemente der Schulkultur aus der DDR-Zeit hat man sich hier bewahrt; Fürsorge für die Schüler, eine hohe Verbindlichkeit im Umgang mit gefassten Beschlüssen – und Solidarität.

Die Schüler zahlen sie zurück, auf ihre Weise. Draußen auf dem Hartgummiplatz kämpfen acht Jungs und ein Ball gegen Wind und Regen an. Im Kurs „Miteinander Leben" bolzen Gutenberger und Jungs aus der benachbarten Gerhard-Schöne-Schule für geistig Behinderte. Wer von welcher Schule kommt, erkennt man im Spiel nicht. „Der Kurs ist bedeutsam", sagt Lehrerin Manuela Nebelung, „die Bewertungen kommen in die Ausbildungsbewerbungen". Vor ihr dreschen die Jungs die Pille gegen eine Böe, der Ball kommt kaum voran. Mit einem Mal lässt der Wind nach. Im Doppelpass rennen zwei nach vorn, der Ball saust flach, da schüttelt ihn wieder der Wind – und schickt den Torwart in die falsche Ecke. Das Leder hüpft, wird langsamer und trudelt ins Netz.

Jan Rübel