Porträt

Caro ist eine, die immer alles ganz genau wissen will, die im naturwissenschaftlichen Unterricht nicht bloß eine Frage als schriftliche Hausaufgabe beantwortet, sondern gleich ein Referat zum Thema „Plastikmüll im Meer“ ausarbeitet und dies dann spontan vor der Klasse hält.

Am Gymnasium galt sie als Streberin. Aber gelernt hat die 14-Jährige mit der Zahnspange dort nicht viel. „Wir mussten viel auswendig lernen, in drei Tagen 120 Vokabeln pauken. „Die hatte sie nach den Tests schnell wieder vergessen. Für Caro war das nichts. Sie will, wie sie sagt, „den Dingen auf den Grund gehen.“ Deshalb wollte Caro auch auf eine andere Schule wechseln, aber das war gar nicht so einfach. Ihre Noten waren zu gut.
Also verweigerte Caro konsequent Leistung, versuchte Fünfen zu kassieren. „Ich war so froh, als ich endlich auf die Anne-Frank-Schule gehen konnte.“

Die Anne-Frank-Schule in Bargteheide ist eine „Gemeinschaftsschule mit gymnasialer Oberstufe“. So heißen in Schleswig-Holstein die Gesamtschulen seit der Schulreform 2007. Bargteheide ist eine beschauliche Kleinstadt im Speckgürtel von Hamburg. Die Anne-Frank-Schule mit 862 Schülern und 67 Lehrern genießt einen guten Ruf weit über ihr Einzugsgebiet hinaus und in diesem Jahr erhält sie den Deutschen Schulpreis. Eine echte Entdeckung – auch für die Jury. „Wir sind nicht nach Schleswig-Holstein gereist mit der Erwartung: Hier ist ein heißer Kandidat für den Preis“, sagt Professor Michael Schratz von der Universität Innsbruck, der Sprecher der Jury.

In der schriftlichen Bewerbung waren den Experten die Besonderheiten der Anne-Frank-Schule noch gar nicht so aufgefallen. Sicher, die Lehrer arbeiten in Teams, es gibt Doppelstunden und fächerübergreifenden Unterricht wie „Weltkunde“ (Geschichte, Erd- und Sozialkunde) oder „Nawi“ (Physik, Chemie und Biologie) und die Schüler führen Logbücher. Aber das machen sie inzwischen auch an vielen anderen Schulen.

Auch von außen fällt die AFS nicht weiter auf, die flachen Rotklinker-Gebäude passen sich dem Ortsbild an. Es ist, als konzentriere sich an der AFS alles auf das Innenleben – auf die Schüler. „Die veranstalten da kein großes Spektakel“, sagt Professor Schratz, und meint das durchaus anerkennend. Denn nachdem er zwei Tage lang den Unterricht beobachtet hat, mit Pädagogen, Eltern, Kindern und Jugendlichen diskutiert hat, waren er und die übrigen Jury-Mitglieder von einer Facette wirklich beeindruckt: dem Umgang der Lehrer mit ihren Schülern. „Die Kollegen machen kein Methoden-Geklimper. Sie sind nah dran an ihren Schülern. Alles trägt dazu bei die Kinder und Jugendlichen zu stärken.“

In der siebten Klasse nehmen alle Schüler an dem „Stärken-Seminar“ teil: Einen Tag lang bearbeiten die Mädchen und Jungen Übungen und werden dabei beobachtet. Allerdings nicht von ihren Lehrern, sondern von Persönlichkeiten des Ortes: Mitglieder des Rotary Clubs sind ebenso dabei wie Handwerker oder der Bürgermeister. Am Ende des Tages geben sie den Schülern Feedback – dabei werden ihnen ausschließlich ihre Stärken gespiegelt. „Nach dem Tag sind alle Jugendlichen zehn Zentimeter größer, so stolz sind sie über das Lob.“, sagt Michael Schratz.

An der Anne-Frank-Schule unterrichten die Lehrer offenbar bereits so, wie es der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie fordert, der mit seiner Mega-Studie „Lernen sichtbar machen“ gerade die deutsche Pädagogen-Szene aufrüttelt. Denn laut Hattie ist für den Lernerfolg nicht die Klassengröße entscheidend, auch Hausaufgaben oder gar Sitzenbleiben bringen nicht viel. Sondern allein auf den Lehrer und seinen Unterricht kommt es an. Die Pädagogen in Bargteheide beherzigen ihr Schulprogramm in dem steht: „Die wichtigsten Vorgaben für jede Schule sind die ihr anvertrauten Kinder – so wie sie sind und nicht so, wie wir sie uns wünschen mögen.“ Sie sind im Dialog mit ihren Schülern, geben ihnen Rückmeldungen und machen so das Lernen sichtbar. Und vor allem trauen sie ihren Schülern viel zu. Positive Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus – das steht ganz oben auf Hatties Liste der 138 Erfolgsfaktoren, die er aus den abertausenden Studien extrahiert hat. Durch diese Ermutigung wachsen die Mädchen und Jungen buchstäblich über sich selbst hinaus.

Nach ihrem Wechsel auf die AFS kam Caro in die so genannte „Rückläuferklasse“: Eine siebte Klasse, eigens eingerichtet für die Schüler, die es am Gymnasium nicht schaffen und deshalb „abgeschult“ werden. Eine Kränkung, die die Kinder erst einmal überwinden müssen. Unter all den ehemaligen Gymnasiasten rutschte Caro schnell wieder in eine Sonderrolle. „Ich war ja die Einzige, die sich freute auf der AFS zu sein.“ Caro übersprang die achte Klasse und heute sitzt das zierliche, nur 1,51 Meter große Mädchen, das gern schwarze Strümpfe und Mini-Rock trägt, zwischen lauter 15-Jährigen in der 9b.

Klar reagiert auch mal einer von Caros neuen Klassenkameraden genervt – es sind schließlich Teenager. So wie Sebastian: „Wo hat sie das bloß alles her?“, stöhnt er im Nawi-Unterricht, als Caro in ihrem spontanen Vortrag ausholt und erklärt, dass es 450 Jahre dauert, bis Plastikrückstände im Wasser abgebaut werden. Sein Banknachbar Richard zuckt mit den Achseln. „Caro ist halt sehr engagiert.“ Anschließend gibt’s Applaus von der Klasse und dann beginnt eine angeregte Debatte, geschickt gelenkt von Klassenlehrer Tom Nickel.

Jule will zum Beispiel wissen, was man gegen verseuchte Fische tun kann. Etwa Vegetarier werden? Jule ist ein aufgewecktes, hübsches Mädchen mit dunklem Pferdeschwanz und bunten Armbändern. Aber auch Jule ist keine gewöhnliche Schülerin, sie ist sehbehindert. Üblicherweise landen Schüler wie sie auf einer Förder- oder Blindenschule. Doch an der AFS lernen Hochbegabte gemeinsam mit Schülern mit besonderem Förderbedarf. „Ich habe Glück, dass diese Schule auch Sonderkinder aufnimmt“, erzählt die 15-Jährige. „Die anderen gehen gut mit mir um. Am Anfang in der fünften Klasse war es ein Thema, dass ich nicht gut sehen kann. Wir haben darüber gesprochen und jetzt ist es kein Problem mehr.“

Seit 2011 ist die Anne-Frank-Schule eines von elf so genannten Kompetenzzentren für Begabtenförderung in Schleswig-Holstein. Hier kann eine Schülerin wie Caro, die zusätzliches Lernfutter braucht, zu den „Spürnasen“ in einen Extra-Raum gehen und über den Unterricht hinaus an eigenen Projekten arbeiten. Caro ist außerdem Schülerpatin für andere Begabte.

Hochbegabung beginnt ab einem IQ von 130. Aber die Anne-Frank-Schule misst Begabung nicht allein am Intelligenzquotienten, sondern fasst sie weiter und nimmt alle in den Fokus. Im fünften und sechsten Jahrgang bekommen sämtliche Mädchen und Jungen pro Woche vier Stunden Zeit, in „Forschen und Üben“ Inhalt und Methode ihrer Arbeit weitgehend selbst zu bestimmen. Dann tragen im Klassenzimmer einige Kinder Kopfhörer, damit kein Geräusch sie ablenkt; bei sonnigem Wetter suchen sich manche auch draußen auf dem Schulgelände einen ruhigen Platz, um selbständig zu arbeiten.

Bereits zum dritten Mal wird beim Deutschen Schulpreis eine Gesamtschule mit dem Hauptpreis ausgezeichnet. Wie die beiden anderen Gesamtschulen vor ihr, die Robert-Bosch-Gesamtschule in Hildesheim (Preisträger 2007) und die Georg-Christoph-Lichtenberg Gesamtschule in Göttingen (Preisträger 2011), hat die Anne-Frank-Schule sich vom Außenseiter zum Vorbild hochgearbeitet.

Als die AFS 1989 gegründet wurde, war sie zunächst mehr geduldet als gewünscht: Sieben Lehrer unterrichteten die ersten Schüler in einem Einfamilienhaus mit morschen Fenstern. Jahrelang wurden Klassen in benachbarten Schulen einquartiert, weil Platz fehlte. „Von den umliegenden Schulen wurden wir misstrauisch beäugt. Eltern mussten sich rechtfertigen, wenn sie ihre Kinder zu uns schickten“, erinnert sich Angelika Knies, 60. Die Schulleiterin hat die Schule gegründet und mit aufgebaut. Und sie wurden beschimpft: „Macht die Fenster zu, hier stinkt es nach Gesamtschule“, rief ein Lehrer vom benachbarten Gymnasium, als Schüler der AFS vorbeigingen. Mädchen und Jungen wurde von Lehrern gedroht: „Wenn du nicht brav bist, dann kommst du auf die Gesamtschule, zu dem Abschaum.“ Und Schulleiterin Knies, die zuvor elf Jahre Biologie und Chemie an einem Gymnasium unterrichtet hatte, wurde bei Veranstaltungen von ehemaligen Kollegen geschnitten. Sie galt offenbar als Verräterin. So heftig waren die Vorbehalte gegen Gesamtschulen in Bargteheide.

Heute genießt die Schule einen ausgezeichneten Ruf, das Vertrauen der Eltern und Schüler ist nahezu grenzenlos: Jedes Jahr ist die Nachfrage nach den 104 Plätzen in den fünften Klassen doppelt so hoch wie das Angebot. Wer hier einen Platz bekommt, wird von den Nachbarn beglückwünscht und von so manchem insgeheim beneidet. „Hier lernt mein Sohn selbständig“, sagt der Vorsitzende des Elternrats Henrik Bustorf, 45. Sein jüngster Sohn Malte geht in die neunte Klasse. Der Große geht aufs Gymnasium. „Jeder, der hier von der Schule geht, kann sich vor die Klasse stellen und einen Vortrag frei halten. Das können nicht viele“, sagt der Direktor der Sparkasse Holstein. Seit Malte auf die AFS geht, arbeitet Bustorf im Elternrat mit. „Hier wollte ich mich sofort engagieren, denn Hilfe und Unterstützung sind erwünscht. Ich kann etwas bewegen.“

Schulleiterin Angelika Knies nickt. Sie glaubt nicht, dass ihre Schule nach 23 Jahren Aufbauarbeit alles kann. „Eine Schule, die sich nicht selbst als lernendes System versteht, die meint, fertig zu sein und nur Bewährtes weitertragen zu müssen, ist tot“, heißt es in der Bewerbung für den Schulpreis. Systematisch schauen die Lehrer: Wo können wir besser werden? Und wer kann uns dabei helfen? Seit 2004 sind sie Mitglied beim Netzwerk „Blick über den Zaun“. Mehrfach haben sie sich beim Deutschen Schulpreis beworben, stets kam die AFS unter die besten 50 Schulen. Das hat ihr die Teilnahme an der Akademie des Deutschen Schulpreises ermöglicht. Deren Anregungen halfen ihr, sich systematisch zu verändern.

Und noch immer sind sie nicht zufrieden: Die Logbücher sollen überarbeitet werden. „Wir können noch besser werden in der Tischgruppenarbeit“, sagt Jürgen Nowottny, 64 – ebenfalls von Anfang an dabei. Für ihn ist die Nominierung für den Schulpreis die Krönung seiner Berufslaufbahn. „Ich bin stolz auf die Schule“, sagt er. „Sie ist das, was ich immer wollte.“ Als Realschullehrer sah er keine pädagogische Zukunft mehr. Zu sehr hat es ihn belastet, wenn Schüler scheiterten. An der AFS hat seit neun Jahren keiner mehr die Schule ohne Abschluss verlassen. Sitzenbleiben, „Schrägversetzungen“ oder andere Aussortierungen kennt man hier nicht.

In der fünften Klasse startet ein Drittel der Schüler mit einer Gymnasialempfehlung, ein Drittel hat eine Empfehlung für die Hauptschule und ein weiteres Drittel für die Realschule. Gemeinsam lernen sie bis zur zehnten Klasse. Die Schüler strafen diese Prognosen Lügen: Nach fünf gemeinsamen Jahren schaffen mehr als die Hälfte der Mädchen und Jungen (53 Prozent) einen höheren Abschluss als von der Grundschule prognostiziert.

So wie Lars Frederic Rexa. Lars Grundschullehrerin sagte zu ihm: „Du gehörst auf die Hauptschule.“ Aber seine Mutter meldete ihn auf der AFS an. Gerade hat der 19-Jährige seine Abiturprüfungen in WiPo, Englisch und Deutsch geschrieben. Jetzt kommt noch die mündliche Prüfung in Biologie, dann hat er es geschafft. „Im letzten Jahr hatten wir ein Treffen mit der Grundschule“, erzählt der junge Mann mit der modischen Hornbrille. Seine frühere Lehrerin wollte wissen: „Na, Lars, wie geht es dir so?“ Sie hatte wohl erwartet, dass ihr ehemaliger Schüler bereits arbeitet. „Ich habe ihr geantwortet: Ich gehe auf die Oberstufe und lerne fürs Abi. Das war für mich echt eine Genugtuung. Und ihr war es, glaube ich, ein bisschen peinlich. Sie hat mir das ja nicht zugetraut.“ Zu verdanken hat Lars seine Leistungen sich selbst und seiner im letzten Jahr verstorbenen Lehrerin Alexa Basner. „Sie hat mir in der zehnten Klasse nach der Realschulprüfung gesagt: ‚Lars, Du kannst das. Jetzt beweis es!’ Und dann habe ich mich reingehängt.“

Bis zu zehn Prozent der Abiturienten hatten so wie Lars die Prognose bekommen, sie würden nur den Hauptschulabschluss schaffen. Auch bei den landesweiten Lernstandserhebungen VERA schneiden die Schüler überdurchschnittlich gut ab. Dafür erhält die Anne-Frank-Schule von der Schulpreis-Jury beim Kriterium Leistung eine glatte Eins.

Die Wertschätzung ihrer Lehrer bestärkt die Schüler und überträgt sich, sie gehen respektvoll miteinander um. „Hier sind alle viel höflicher als an meinem alten Gymnasium“, sagt Caro. Gewalt ist kein Thema, der Nadelfilz auf dem Boden ist gepflegt und sauber, an den Wänden oder auf den Toiletten finden sich keine Spuren von Schmierereien. Während der Pausen dürfen die Schüler – auch schon die Kleinen aus der Fünften – im Gebäude und in ihrem Klassenzimmer bleiben. Auch ohne ständige Aufsicht.

Die Schule wächst rund um das ehemalige Einfamilienhaus, in dem heute noch die fünften Klassen untergebracht sind. Im neuen Oberstufentrakt hängt ein riesiges Gemälde. Ein Werk des Kunstprofils: Eine gewaltige, lilafarbene Krake greift mit ihren Tentakeln nach drei Menschen, die im Wasser zu schweben scheinen. Sind es Schüler, Lehrer oder Eltern? Von den Personen sind nur die Umrisse zu erkennen. Egal. Die AFS, so die Botschaft, umarmt einfach alle und lässt keinen mehr los.