Porträt

Passt man nicht auf, übersieht man sie fast, die kleine Tafel aus Acryl im Flur der Europaschule Bornheim bei Bonn. In schwarzen Buchstaben steht da: "Jeder Mensch ist einzigartig und verdient unser Vertrauen. Kein Mensch darf gedemütigt werden."

Bevor Christoph Becker 2008 als Schulleiter antrat, standen auf der Tafel noch die Namen der Schulleitung. "Vertrauen ist ein zentraler Begriff für ein menschliches Miteinander und die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen", sagt er. Die Schülerinnen und Schüler sollen den Lehrkräften, ihren Mitschülern und sich selbst vertrauen. "Damit wollen wir sie befähigen, zu Autoren eines eigenverantwortlichen und gelingenden Lebens zu werden." Diese Idee hat die Schule auf unterschiedlichen Ebenen in den gesamten Schullalltag integriert. In jeder Klasse bespricht ein Klassenrat aktuelle Probleme und Entwicklungen. In Arbeitskreisen diskutieren Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler gemeinsam über Themen wie gesunde Pause, Verwaltung, Umwelt oder Lernzeiten. Die Schülervertretung vermittelt selbstbewusst die Belange der Schülerinnen und Schüler. Vertrauen und Eigenständigkeit, Demokratie und Mitbestimmung lernen sie so ganz nebenbei.

"Moment mal", sagt Pia, 18, "Sie sind nicht dran." Rund 30 Schülerinnen und Schüler sitzen mit drei Lehrkräften in Raum 195 beim Treffen des Schülervertreter-Kernteams. Klassen-, Stufen-, Schülersprecher und Schüler aus den Arbeitskreisen diskutieren über Hausaufgabenkonzepte oder die kommenden Schülersprecher-Wahlen.

Was anderswo als Respektlosigkeit zählt, gehört hier zum demokratischen Prozess

Die drei Lehrkräfte beraten sie. Pia, die Schülersprecherin, hat gerade eine Lehrerin unterbrochen. Was anderswo als Respektlosigkeit zählen würde, gehört hier zum demokratischen Prozess dazu. Auch Lehrkräfte müssen warten, bis sie dran sind. Als Nächstes stellt Pia die Ergebnisse des schulinternen Wettbewerbs vor. Zum 60-jährigen Geburtstag der Europäischen Union konnten alle Schülerinnen und Schüler ein Geburtstagsgeschenk abgeben. Mehr als hundert haben sich beteiligt. "Wir haben tolle Einreichungen bekommen", sagt Pia. "Kuchen, Postkarten, Briefe, Plakate und sogar Spiele." Eine Jury aus neun Schülerinnen und Schülern und vier Lehrkräften hat die Einreichungen bewertet. Die Erfinder der besten 50 machen einen Ausflug nach Brüssel.

Schülerinnen und Schüler sollten nicht nur Algebra, Goethe und Alkalimetalle kennen- lernen, sondern sich zu starken Persönlichkeiten entwickeln, sagt Christoph Becker. Die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler ist an der Europaschule Bornheim wichtig. "Angesichts der Millionen Menschen, die zurzeit vor Krieg und Terror auf der Flucht sind, ist mir klar geworden: Unserer Welt fehlt es nicht an noch mehr Wissen und Technik. Es fehlt uns an Empathie und Herz. Wir sind in der Lage, gestochen scharfe Bilder aus dem All zu senden. Aber wir scheitern bei Verhandlungen über eine friedliche Koexistenz."

Für die friedliche Koexistenz an der Europaschule sind die Streitschlichter zuständig. In einer halbjährigen Ausbildung werden pro Klasse zwei Schülerinnen und Schüler des 7. Jahrgangs ausgebildet. Mit dem Übergang zur 8. Klasse übernehmen je zwei Streitschlichter eine 5. Klasse. Wöchentlich fragen sie dort nach Streitigkeiten. Julian, 14, ist einer von ihnen. "Wir helfen ihnen, miteinander zurechtzukommen", sagt er. "Zuerst sollen beide ihre Sicht schildern und dann die Perspektive des anderen einnehmen." Nach dem Rollentausch kommen die meisten selbst auf die Lösung des Konflikts. Gemeinsam halten sie in einem Vertrag fest, wie sie sich in Zukunft verhalten wollen. "Ausreden lassen, zuhören und in die andere Position hineinversetzen. Wenn man das schafft, ist die Streitschlichtung erfolgreich", sagt Julian.

"Wir überlegen nicht, was die Schüler möglicherweise wollen. Wir fragen sie einfach danach"

In der Europaschule unterstützen sich Schülerinnen und Schüler gegenseitig. Viele Konflikte können so ohne die Hilfe der Lehrkräfte oder Sozialpädagogen gelöst werden. Für Schulleiter Christoph Becker ist das zu einer Selbstverständlichkeit geworden. "Wir überlegen nicht, was die Schüler möglicherweise wollen. Wir fragen sie einfach danach", sagt er. Schülerinnen und Schüler reden auf allen Ebenen mit. In dem vierköpfigen Gremium, das über die Einstellung von neuen Lehrerinnen und Lehrern entscheidet, sitzt seit einigen Jahren immer eine volljährige Schülerin oder ein volljähriger Schüler. Den Pausenhof mit "Chill-Zonen", Hängematten und Bolzplatz haben Schülerinnen und Schüler entwickelt. In der Schulkonferenz sitzen neben sechs Lehrkräften auch jeweils sechs Eltern und sechs Schülervertreter. "Demokratie muss man schon in der Schule lernen", sagt Becker, "und weil Selektion und Demokratie nicht zusammenpassen, ist die Schule seit 2009 inklusiv." Einer, der den Bereich der Inklusion an der Schule vorantreibt, ist Philipp Michel. Der 34-Jährige hat Sport und Sonderpädagogik in Dortmund studiert. Aber er wollte nicht, dass nur die Lehrkräfte für die Inklusion zuständig sind. "Ich wollte auch die Schüler aktiv werden lassen." Also bot er Sonderpädagogik als Schulfach in der 12. Klasse an. Die Resonanz hat ihn überrascht. Im ersten Jahrgang haben sich 70 Schülerinnen und Schüler angemeldet. Aus einem geplanten Kurs musste er kurzerhand drei machen.

Gemeinsam entwickeln sie im Unterricht pädagogische Konzepte für behinderte und nicht behinderte Kinder. Die Schulleitung stellte Michel einen Raum zur Verfügung. "Wir haben ihn SamS-Raum genannt, Schüler arbeiten mit Schülern", sagt er. Betreut von älteren Schülern finden dort Anti-Aggressionstrainings statt. Schülerinnen und Schüler, die sich im Unterricht nicht konzentrieren können, dürfen im SamS-Raum weiter- arbeiten. "Außerdem bieten wir in unteren Klassen Konzentrationsübungen und Vertrauensspiele an", sagt Michel.

Nicht nur mathematische Formeln lernen, sondern was fürs Leben mitnehmen

Im SamS-Raum sitzen Maya, Juliane, Lea, Lena und Luisa aus der 12. Stufe. Sie alle haben das Fach Sonderpädagogik belegt, aus unterschiedlichen Gründen. "Ich wollte wissen, wie ich mit behinderten Menschen umgehen soll, und weiß jetzt, dass ich einfach offen sein muss", sagt Lena. Juliane wollte nicht nur mathematische Funktionen lernen, sondern "etwas fürs Leben mitnehmen". Lea dagegen will nach dem Abitur auf Lehramt für Grundschule und Sonderpädagogik studieren. "Danach will ich in einer inklusiven Schule arbeiten."

Im Raum hängt ein Boxsack, in der Ecke steht ein Computer zur Recherche, in den Regalen Bücher und Spiele. Die Ausstattung hat die Schule bezahlt. Die Betreuung übernehmen Teilnehmer des Sonderpädagogik-Kurses. Es klopft. Drei Schülerinnen aus der Unterstufe kommen in den Raum. "Braucht ihr Hilfe?", fragt Juliane. "Wir haben uns Übungsaufgaben mitgebracht", antwortet eine, und die Gruppe setzt sich an einen Tisch. Konzentriert arbeiten sie an ihren Aufgaben. "Wenn sie Hilfe brauchen, werden sie sich schon melden", sagt Juliane.

Inklusion und Mitbestimmung der Schülerinnen und Schüler auf allen Ebenen an einer Gesamtschule - als Christoph Becker mit dieser Idee antrat, war der Anfang alles andere als einfach. "Die stärkere Beteiligung der Schülerschaft und die Wahl von Schülerinnen und Schülern in wichtige Gremien war für uns alle eine Umstellung und Herausforderung. Aber dann haben wir gemerkt: Das verbessert das System." Und wenn sich alle beteiligen, sei das auch eine Entlastung für die Lehrerinnen und Lehrer.

An der Europaschule in Bornheim klappt das. Vor kurzem wurde sie als "Schule ohne Rassismus" ausgezeichnet. Die Idee für die Bewerbung hatte eine Schülerin.