Porträt

Johann Maretzki* steht hinter der Gardine seines Fensters und schaut auf die Straße. „Ich sehe gerade, da kommt sie schon an“, sagt er und zeigt auf Noa*, ein junges Mädchen, das mit zwei vollen Einkaufstüten auf sein Wohnhaus zugeht und ihm fröhlich zuwinkt. Johann Maretzki ist alleinstehender Rentner und wohnt in Nordhorn, einer Kleinstadt im äußersten Südwesten Niedersachsens, direkt an der Grenze zu den Niederlanden. An der Tür nimmt er dem Mädchen die Beutel ab, hebt die Hand zum Abschied und sagt: „Danke! Bedürftigkeit hört in Corona-Zeiten ja nicht auf.“

Noa gehört zu den vielen Schülerinnen und Schülern des Evangelischen Gymnasiums Nordhorn, die sich in der Pandemie für ältere Menschen engagieren. „Unsere Schüler gehen ein Jahr lang für zwei Stunden pro Woche in eine soziale oder diakonische Einrichtung. Das ging nun dieses Jahr nicht, wir mussten uns um Alternativen kümmern“, sagt Schulleiterin Gabriele Obst und ergänzt: „Deswegen haben unsere Schülerinnen und Schüler zum Beispiel bei alten Menschen die Einkäufe erledigt.“ Ein weiterer Beitrag zur Unterstützung waren die „Balkonkonzerte“: Die Kinder und Jugendlichen musizierten und sangen während des Lockdowns gemeinsam für die Bewohnerinnen und Bewohner von Altenheimen – mit ausreichend Abstand und unter freiem Himmel. „Das macht einfach Freude und ermutigt die Schülerinnen und Schüler, über sich hinauszuwachsen“, sagt Gabriele Obst.

Verantwortung übernehmen, die Gemeinschaft stärken, Kompetenzen fördern und auf Individualität achten – das Schulprogramm des Gymnasiums steht auf vier Säulen, die es in vielfältigen Netzwerken im regionalen und überregionalen Raum umsetzt. In der Pandemie baut die Schule sowohl ihre Netzwerke als auch ihre Projekte aus und initiiert neue, um auf diese Weise die vier Schwerpunkte ihrer pädagogischen Arbeit fortzuführen und die Schulentwicklung sogar zu beschleunigen.

Die Schule pflegte weiterhin ihre Partnerschaften mit diakonischen Einrichtungen, um den Schülerinnen und Schülern auch unter Pandemiebedingungen die Möglichkeit zu geben, Verantwortung zu übernehmen und so das Service Learning – die Verbindung von gesellschaftlichem Engagement und fachlichem Lernen im Unterricht – zu erweitern. Mit vielfältigen Maßnahmen schafft es das Evangelische Gymnasium Nordhorn in den vergangenen Monaten außerdem, die Gemeinschaft zu stärken. Es setzt die Arbeit am Erasmus+-Programm online fort und kooperiert dafür mit Schulen aus Bulgarien, Lettland und Frankreich. Die Schule baut einen Instagram-Account auf, bietet einen digitalen Tag der offenen Tür, virtuelle Andachten und Videoberatungen an. So festigt sie die Schulgemeinschaft durch Vernetzung. „Ich bin total begeistert, wie die Schule mit dieser Zeit umgeht. Die Kinder haben digitalen Unterricht, sie sehen sich täglich, die Lehrkräfte sind ansprechbar für die Kinder, es gibt einen tollen Austausch“, sagt Daniela Jahn, deren zwei Töchter das Gymnasium besuchen.

Sie ist begeistert von den Projekten, die die Schule zum großen Teil mit außerschulischen Partnern durchführt. Die Projekte des teilgebundenen Ganztags sind wichtige Elemente des interessengeleiteten Lernens an der Schule, um dem Schwerpunkt „Individualität achten“ gerecht zu werden. Das Evangelische Gymnasium Nordhorn konnte – trotz des Lockdowns und Fernlernens – das Ganztagsangebot aufrechterhalten und stellte auf „digitale Projektarbeit“ um. Die Schule bezieht nun zusätzlich überregionale Partner wie beispielsweise ein junges Göttinger Unternehmen für klimafreundliche Landwirtschaft mit ein. Schülerinnen und Schüler betreuen für das Start-up Messstationen vor Ort und werten die Daten gemeinsam mit den Projektleiterinnen und -leitern aus.

„Wir haben unglaublich viele Netzwerkpartner, und jetzt unter Corona hat sich dieser lokale Ort der Schule absolut erweitert, weil wir plötzlich die Möglichkeit hatten, über die digitalen Medien Netzwerkpartner zu gewinnen, mit denen wir vorher ganz selten in Kontakt waren“, sagt Gabriele Obst. Ein Netzwerkpartner ist die 80 Kilometer entfernte Universität Osnabrück. Mithilfe digitaler Tools hat das Evangelische Gymnasium Nordhorn die Universität ins Klassenzimmer geholt. So beobachtete beispielsweise ein Chemie-Didaktiker die Experimente der Schülerinnen und Schüler und gab ihnen Tipps und Hinweise für den Versuchsaufbau – live via Videokonferenz. Die Universität Essen wiederum bildet ältere Schülerinnen und Schüler durch ein Coaching zu Lernbegleiterinnen und Lernbegleitern für Jüngere aus. Mit Kooperationen wie diesen stärkt die Schule die individuellen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler in der Pandemie. Gabriele Obst ist überzeugt: „Digitalisierung unterstützt die Vernetzung nicht nur – sie fördert sie sogar.“

* Namen von der Redaktion geändert