Porträt

Andere wahrzunehmen, ihnen zu vertrauen, sich selbst zu vertrauen, das lernt man an der Schule in Altingen bei Tübingen so selbstverständlich wie anderswo Grammatikregeln. An diesem Morgen sitzen zwei junge Männer mit zwei Sozialarbeitern in einem Besprechungszimmer, Mike* und Thomas*.

Vor ihnen auf dem Tisch liegt ein Vertrag. Es soll der Schlusspunkt eines seit längerem schwelenden Konflikts in Klasse 8 werden. Der begann vor einigen Monaten scheinbar harmlos mit der Verballhornung von Mikes Nachnamen. Dann folgten Sticheleien über seinen Körpergeruch. Einer versprühte demonstrativ Deo im Klassenzimmer. „Mike stinkt“, hieß es. Viele machten mit, vor allem Thomas. „Ärgerspiele“ nennt Schulsozialarbeiter Walter Brückner solche Rituale, die kein Spiel mehr waren, jedenfalls nicht für Mike. Der große und schwere Junge, weniger wortgewandt als seine Peiniger, wusste nicht, wie er sich wehren sollte. Einmal rannte er mitten in der Stunde aus der Schule. Die Stimmung ist ernst, als sich eine Stunde später die ganze Klasse im Stuhlkreis zur „Schüler- versammlung“ trifft. Jeder Schüler hat das Recht, den Klassenrat einzuberufen, auch die Lehrer. Der Schulsozialarbeiter eröffnet die Runde. Er nennt das Problem beim Namen: „Ausgrenzung“. Es gehe nicht nur um Mike und Thomas. „Es gibt auch andere, die geärgert werden.“

Nach und nach trauen sich einige Schüler aus der Deckung. Luisa*, sichtlich aufgewühlt, hebt den Finger und will erzählen. Stattdessen bricht sie in Tränen aus. Die Klasse schaut betroffen.

Die dritte Stunde am Freitag ist reserviert für den Klassenrat. An der Grund- und Hauptschule in Altingen bei Tübingen ist der Klassenrat eine Institution, so wichtig wie Deutsch oder Mathe, und wenn ein Problem drängt, muss dafür auch mal eine Mathestunde ausfallen. Denn wer kapiert schon Prozentrechnen, wenn er vor Wut kocht? Der Klassenrat ist an dieser kleinen Schule – 187 Schüler, davon 25 Prozent Migranten – das Parlament der Schüler. Hier lernen sie Demokratie, fairer als in jedem Erwachsenenparlament. Hier wird zugehört, hier spricht nur, wer an der Reihe ist, keiner darf diffamiert werden. Der Gedanke dahinter: Nur wer erfährt, dass er selbst gerecht behandelt wird, kann auch zu anderen gerecht sein. Nur wer sich verstanden fühlt, kann andere verstehen.

Das tägliche Miteinander ist ein wichtiger Teil des „Altinger Modells“, das Schulleiter Ulrich Scheufele, 58, mit seinem Kollegium seit über zwanzig Jahren fortentwickelt, ein Reformkonzept, das großen Wert auf Gerechtigkeitssinn und menschlichen Umgang legt. Fähigkeiten, die nicht unbedingt im Lehrplan stehen, die aber dafür sorgen, dass es an dieser Hauptschule kaum Gewalt gibt, obwohl die Welt auch hier längst nicht mehr heil ist. „Zwei Fälle in zwanzig Jahren“, sagt Scheufele.

Natürlich ist der Unterricht das Kerngeschäft auch dieser Schule. Natürlich soll er spannend und lebensnah sein. Dafür sorgen in Altingen monatelange, fächerübergreifende Projekte, die echtes Erleben ermöglichen. Beim „Waldprojekt“ in Klasse 6 beispielsweise, lebte die Klasse eine Woche lang im Wald und baute sich aus Stämmen und Zweigen eine Hütte. Das Thema Wald wurde in allen Fächern behandelt und mündete in eine Ausstellung, die der ganzen Schule präsentiert wurde (www.altinger-konzept.de). Stets sind Experten dabei, Förster, Gärtner, Handwerker oder Schauspieler, die die 19 Lehrerinnen und Lehrer unterstützen. Aber genauso wichtig ist Scheufele und seinem Kollegium eine „Lehrkraft“, deren Bedeutung oft unterschätzt wird: die Gemeinschaft. „Das soziale Lernen ist so wichtig wie das kognitive Lernen, es ist die Voraussetzung, dass man sich fürs kognitive Lernen öffnen kann“, sagt der Rektor. Schon in der ersten Klasse lernen die Altinger Schüler, dass sie sich Hilfe holen können, wenn sie drangsaliert werden oder sich ungerecht behandelt fühlen – auch vom Lehrer. Jedes Kind soll eine Stimme bekommen, auch die Schüchternen, die wenig Wortgewandten. Das wird ständig geübt, mal in der großen Schulversammlung, wenn sich alle Schüler in der Turnhalle treffen, mal in der Klassenversammlung. Diese Runde kann bei Konflikten auch über eine Wiedergutmachung entscheiden. Der Lehrer hat theoretisch ein Vetorecht, wenn die Entscheidung gegen die Würde eines Schülers oder die Schulordnung verstößt. Doch das braucht er selten.

Zu Anfang von Klasse 5 nehmen sich die Lehrer viel Zeit für das Sozialtraining. Viele Kinder kommen gedrückt, weil sie ja „nur“ Hauptschüler sind.

Aus ihnen wird eine Gemeinschaft geschmiedet, beispielsweise indem man gemeinsam eine hohe Tanne erklimmt und sich dabei gegenseitig sichert. Doch wer glaubt, soziale Fähigkeiten – einmal einstudiert – sitzen für immer, der täuscht sich. „Wir üben uns darin, und es gelingt mal mehr und mal weniger“, sagt Lehrerin Karina Vogel-Pahls bescheiden.

Joao meldet sich, er will die Schülerversammlung in Klasse 8 leiten. Er wiederholt kurz die Regeln: Nur in der Ich-Form sprechen, den anderen ausreden lassen, ihn nicht beleidigen, Wiederholungen vermeiden. Nur wer den roten Ball in Händen hält, darf sprechen. Mike sagt, was er sich wünscht: „Dass man mich respektiert.“ Er würde an Mikes Stelle auch aus dem Klassenzimmer rennen, bekennt ein Mitschüler. Mike müsse sich „auch an die eigene Nase fassen“, wendet Hami, der Klassensprecher, ein. Das Problem liege nicht nur an der Klasse. „Sag es ihm direkt, was du dir von ihm wünschst“, wird Hami aufgefordert. Hami wird deutlich: „Ich will nicht mehr, dass du deine Wut an mir rauslässt, ich will nicht mehr von dir mit einer Schere bedroht werden.“ Nun zeigt sich eine andere Seite von Mike: Es gefällt ihm, seine Mitschüler von hinten zu attackieren. Er pikst sie in die Seiten, so dass sie vor Schreck zusammenzucken und „hopsen“. Jetzt sollen Vorschläge gemacht werden, wie der Streit zu lösen ist. Das Ziel: Mike, Hami und Thomas müssen keine Freunde werden, aber sie sollen respektvoll miteinander umgehen. Thomas berichtet von dem Vertrag, den er eine Stunde zuvor mit Mike im Beisein der Sozialarbeiter geschlossen hat: Sollte es noch mal dumme Kommentare geben, wird sich Thomas demonstrativ auf Mikes Seite stellen. „Aber ich will nicht ausgelacht werden“, fordert Thomas von der Klasse. „Es soll keiner sagen, dass ich mich bei Mike einschleime.“ Es folgen eine Menge Vorschläge, wie sich das Klassenklima verbessern ließe. Mike könnte ein Papier zerknüllen, wenn er wütend ist, schlägt ein Junge vor. Oder den Boxsack traktieren. „Ich bin bereit, dich nicht mehr zu beleidigen,“ sagt Joao, „wenn du aufhörst, mich zu piksen.“

Es geht den Lehrern in Altingen nicht nur ums Wohlfühlen, sondern auch um Qualitäten für den späteren Beruf. Betriebe schätzen das Selbstwertgefühl der Absolventen aus Altingen, ebenso wie ihre Fähigkeit, im Team zu arbeiten. In den letzten Jahren fanden 76 Prozent der Absolventen eine Lehrstelle, weitere 18 Prozent machten den Realschulabschluss, berichtet Schulleiter Scheufele. Nach gut einer Stunde ist die Aussprache in Klasse 8 zu Ende. Thomas und Mike geben sich die Hand. Thomas wird nicht mehr lästern, Mike nicht mehr abhauen. Achim wird Thomas beistehen, falls ihn einer ärgern sollte. Als sie in die Pause gehen, sehen alle erleichtert aus.

(*Namen geändert)

Ingrid Eißele