Porträt

Ein Gymnasium, an dem die Mehrheit der Schüler Migranten sind – eine Utopie in Deutschland? Irrtum.

So hatte sich Robin die neue Schule nicht vorgestellt. Völlig verunsichert kam er nach dem ersten Schultag nach Hause. In seiner fünften Klasse waren er und ein Klassenkamerad die einzigen deutschen Schüler. Einen „Kulturschock" attestierte ihm Schulleiter Bernd Knorreck. Am zweiten Tag weigerte sich der Junge, in die Schule zu gehen. Da fühle er sich fremd. Sieben von zehn Schülern an seiner Schule sind mit einer anderen Muttersprache aufgewachsen: Türkisch, Russisch, Polnisch, Arabisch, Bengalisch, Afghanisch, Finnisch, Ovambo, Lingala, Urdu. Robin fühlte sich wie auf einem anderen Planeten. Die Eltern ermutigten ihn durchzuhalten. Sein Vater, Ingenieur bei Siemens, und die Mutter, gelernte Goldschmiedin, hatten sich bewusst für die Schule im Südwesten Kölns entschieden, obgleich es Alternativen gab, die näher lagen. Er solle es noch eine Woche versuchen, bat ihn sein Vater, er arbeite schließlich auch mit ausländischen Kollegen zusammen. Inzwischen besucht Robin die sechste Klasse. Zu seinen besten Freunden zählt Kotaro aus Japan. Robins Urteil heute: „Eigentlich ist es bei uns egal, woher einer stammt."

Klingt fast zu schön, um wahr zu sein, erst recht, wenn man die Gegend kennt, in der die Schule liegt: Köln-Mülheim, ehemaliges Arbeiterviertel, gleich um die Ecke die Keupstraße, „Klein-Istanbul" genannt, in der es kaum noch deutsche Geschäfte gibt. Etwa ein Drittel der Schüler lebt von Hartz IV. Eltern der Mittelschicht machen seit Jahren einen Bogen um diese Schule. Selbst unter Migranten gibt es Vorbehalte. Schülerin Fatima, 15, und ihre Eltern bekamen vor einigen Jahren noch zu hören, die Tochter solle doch besser das Hölderlin-Gymnasium besuchen, statt diese „asoziale Schule mit den vielen Ausländern".

Aus dem einstigen Mädchengymnasium wurde in den Neunziger Jahren eine Ganztagsschule vor allem für Zuwanderer. „Erst kam die polnische, dann die russische, dann die türkische Welle", sagt Knorreck, der 2005 die Leitung der Schule übernahm. Er selbst kam aus dem Stadtteil Lindental, „wo die Professoren leben", und Eltern viel Geld für Nachhilfeunterricht investieren. Nur den wenigsten Genoveva-Schülern wird derart geholfen. Umso erstaunlicher, dass sie im Zentralabitur ebenso gut abschneiden wie Abiturienten in bürgerlichen Stadtteilen. „Konsequent, hochprofessionell und höchst wirksam", so die Jury des Deutschen Schulpreises, setze das Gymnasium um, was Bildungsreformer seit Jahren fordern, nämlich endlich das Potenzial von Einwandererkindern zu nutzen, die in vielen deutschen Großstädten zwar schon die Mehrheit ihrer Generation stellen, aber überproportional häufig auf Hauptschulen landen.

Das Motto des Genoveva: „Alle reden von Integration. Wir machen sie." Mit der Sprache fängt alles an. Ohne sehr gute Deutschkenntnisse kein Abitur, das weiß am „Geno" jedes Kind. Trotzdem werden selbst Kinder, die kein Wort Deutsch sprechen, aufgenommen, sofern sie den Aufnahmetest in Englisch und in ihrer Muttersprache bestanden haben. Danach lernen sie Deutsch in Intensivkursen bei speziell ausgebildeten Lehrern. So wie die 15-jährige Kaja aus Polen, die 12-jährige Anastasia aus Russland oder die 11-jährige Viktoriya aus Bulgarien, die erst seit wenigen Monaten in Deutschland leben. Regina Beckmann unterrichtet die kleine Gruppe in der Mittagszeit, während andere schon in der Mensa sitzen. Die Lehrerin hat Küchengeräte als Anschauungsobjekte mitgebracht. „Schüssel", schreibt ein Mädchen an die Tafel. Regina Beckmann erklärt nicht nur die Schreibweise, sondern auch die Rechtschreibregel dazu. Ihre Schüler lernen schnell und zielstrebig. Immerhin ein Fünftel der Genoveva-Schüler, besonders jene aus Osteuropa, hat Akademikereltern – darunter Ingenieure und Ärzte, die wissen, wie wichtig das Abitur für ihre Kinder ist.

Nach ein paar Monaten beherrschen solche ehrgeizigen Seiteneinsteiger genug Deutsch, um dem Unterricht folgen zu können. Daneben gibt es auch am Genoveva Schüler, die in einer Parallelwelt aufwachsen. Es gehe nicht darum, Migranten die deutsche Kultur aufzuzwängen, betont der Schulleiter. Aber ein paar „harte Regeln" müssen sein: Pünktlichkeit und Disziplin, gegenseitiger Respekt und Solidarität sind Pflicht. Wer seine Mitschüler notorisch stört, kommt in den „Trainingsraum", wo er allein, unter Aufsicht eines Lehrers, arbeiten muss. Eltern verpflichten sich schriftlich, dass ihr Kind an Klassenfahrten und am Schwimmunterricht teilnehmen darf. Zugleich werden Kompetenzen der Schüler wichtig genommen. Türkisch kann als Prüfungsfach im Abitur gewählt werden. Statt einer Weihnachtsfeier gibt es ein „Winterfest", die Schüler gehen durch Räume, die von Mitschülern mit Symbolen jüdischer, christlicher und muslimischer Feiertage ausgeschmückt wurden.

In Klasse sieben sprechen fast alle sehr gut deutsch. Das ist notwendig, wenn man Sinn und Form von Heines Ballade „Belsazar" ergründen will. „Der König stieren Blicks da saß, mit schlotternden Knien und totenblass", rezitiert Medine. Die Mitschüler sollen „coachen" und Tipps für den besseren Vortrag geben. Marice trägt das „Heideröslein" vor. „Du hast Takt, Metrum und Betonung eingehalten", loben die Klassenkameraden. „Aber sprich noch einen Tick lauter." Leistungsbereitschaft verlangt auch Tanzpädagogin Sarah Schuhmacher. Tanz ist für die Ganztagsschüler am Genoveva bis Klasse neun Pflichtfach. An diesem Morgen studiert sie mit elf Mädchen und fünf Jungen der siebten Klasse eine neue Technik ein. „Klarer Blick, stolzer Rücken! Hände aus den Hosentaschen, Fliegerdrehung, hopp!" Schuhmacher, schlank und durchtrainiert, tanzt die Bewegungen vor. Die meisten Mädchen machen sie mühelos nach, doch einige Jungs stehen sichtlich neben sich. Die Arme von Emrah hängen schlaff wie die Zweige einer Trauerweide. „In wenigen Wochen", ermahnt Sarah Schuhmacher, „habt ihr einen öffentlichen Auftritt!" „Was?" klingt es aus der Klasse.

Die Schüler lernen Schritt für Schritt, Verantwortung für ihr Stück zu übernehmen. „Du stehst – du gehst – du entscheidest!", ermuntert die Lehrerin ihre Schülerin Medine. Und gleich darauf Emrah: „Du führst die Klasse an." Emrah steht jetzt vorn. Ein Ruck geht durch seinen Rücken – und auf einmal fließen seine Bewegungen.

Tanz funktioniert, wenn Sprache noch nicht funktioniert, erklärt die Tanzpädagogin. Tanz sei ein Ventil für Emotionen, sorge für ein besseres Miteinander, sogar für bessere Noten. Schülerin Laura, 14, sagt: „Beim Tanz muss man sich vertrauen." Egal, woher einer stammt.

Solche Angebote machen die Schule auch für deutsche Schüler attraktiv. Aber das allein würde nicht reichen, wenn das Engagement der Lehrer nicht wäre. „Man darf sie fragen, man darf auch mal etwas nicht verstanden haben", beobachtet Robins Mutter. „Diese Lehrer mögen Kinder." Folge: Aus Robins Angstfach Mathe wurde sein Lieblingsfach. Schon am dritten Tag fand Robin seine Mitschüler „witzig". Den besten Beweis, dass die Entscheidung für diese Schule richtig war, liefert er seiner Mutter seitdem auch ohne Worte: „Er kommt jeden Tag gut gelaunt aus der Schule."

Ingrid Eißele