Porträt

Joshua* sitzt im Foyer der Gesamtschule Bremen-Ost am Klavier und spielt neugierig die Tasten an. Drei halbwüchsige Jungs stehen um ihn herum und geben Tipps. Andere schenken den Klängen in der Pause wenig Beachtung. "Irgendjemand spielt hier immer in der Pause am Klavier", sagt der Schulleiter Hans-Martin Utz nicht ohne Stolz. Die einen würden sich am Flohwalzer versuchen, andere an vierhändigen Partituren.

Früher seien in dem Klavier Pausenbrote oder Cola-Dosen gelandet, erzählt Utz. "Wir haben überlegt, ob wir es wegschließen, und uns dann dagegen entschieden", sagt der Schulleiter. Das Klavier wurde weiter in die Mitte des Foyers gerückt und stand fortan allen  Schülerinnen und Schülern zur Verfügung. Auch die Räume, in denen die Streicher- und Bläserklassen ihre Instrumente haben, wurden in der Pause geöffnet. Die Schülerinnen und Schüler wüssten das inzwischen sehr zu schätzen, Abfälle im Klavier seien heute undenkbar, sagt Utz.

Die Gesamtschule Bremen-Ost liegt in einem Neubaugebiet am Rande der Stadt. Das großzügige Schulgebäude wurde in den 1970er Jahren einst für 3.000 Schülerinnen und Schüler gebaut. Heute lernen hier 1.350 Kinder und Jugendliche aus 30 verschiedenen Nationen, viele von ihnen kommen aus Familien mit geringem Einkommen. "Nur wenige haben die Möglichkeit, zu Hause oder in der Musikschule ein Instrument zu lernen. Wie sollten sie auch üben, wenn sich drei Geschwister einen Raum teilen?", sagt der Schulleiter, der selbst zunächst als Musiklehrer an der Schule angefangen hatte.

Vor etwa 15 Jahren hat die Schule begonnen, ein musikalisches Profil aufzubauen. Damals zog die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, die auf der Suche nach geeigneten Probenräumen war, in einen Teil des Gebäudes ein. Das war der Beginn einer bis heute fruchtbaren Kooperation. Profilklassen, in denen die besonderen Neigungen der Schülerinnen und Schüler gefördert werden, sind zum Markenzeichen der Schule geworden. Neben den Musikklassen gibt es inzwischen auch Profilklassen für Kunst, Theater und Naturwissenschaften.

Und so steht im Foyer der Schule nicht nur das Klavier, hier hängt auch die aktuelle Ausstellung der Kunstklassen. Ganz präsent sind zwei Skulpturen in der Eingangshalle: Die "Große Badende" und der "Sitzende Alte" des Bildhauers Waldemar Grzimek sind eine Leihgabe des Gerhard-Marcks-Hauses, das ebenfalls mit der Schule kooperiert. Die Figuren geben den Teenagern Gelegenheit, sich mit den Themen Nacktheit, Jugend und Alter zu beschäftigen. Von Schmierereien, wie man sie bei pubertierenden Jugendlichen angesichts der nackten Figuren erwarten könnte, keine Spur.

"Darf ich in der Pause Geige üben?", fragt Akira ihre Musiklehrerin Sylvia Klingler. Sie darf, und so zieht sich die Zwölfjährige in den Übungsraum mit den Instrumenten zurück, auch wenn keine Aufsicht daneben sitzt. Ein zweites Mädchen gesellt sich dazu. "Die Schülerinnen bringen sich auch gegenseitig die Instrumente bei, das gehört zum Konzept der Schule", sagt die Lehrerin. Dabei sieht man nicht nur Jugendliche gemeinsam an der Geige einen Song üben, sondern auch dabei, wie sie sich zusammen etwa auf eine Matheklausur vorbereiten.

Der 14-jährige Karim aus Kabul ist noch nicht lange an der Schule. Obwohl er erst seit wenigen Wochen eine Geige in der Hand hält, spielt er zusammen mit den anderen Schülerinnen und Schülern der achten Klasse den Popsong "Firework" von Katy Perry. "Jeder kann auf seinem Niveau in der Streicherklasse mitspielen, es gibt immer auch einfache Stimmen", sagt die Musiklehrerin Klingler. Und wenn nicht, dann schreibe sie diese Stimmen eben eigenhändig in das Arrangement.

Auch das ist ein pädagogisches Grundprinzip der Gesamtschule mit vier Inklusionsklassen. "Wenn die Schüler zu uns kommen, starten sie an ganz unterschiedlichen Linien. Einigen wurde schon in der Kita vorgelesen, andere haben das nie erlebt", sagt der Schulleiter. Ziel der Schule sei es, jeder Schülerin und jedem Schüler gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Der erste Schritt dazu sei Ermutigung, und das gelinge vor allem durch sehr viel Beziehungsarbeit. "Die Lebensläufe der Jugendlichen haben oft viele Brüche", sagt Utz. Dazu gehörten auch Gewalt, Armut oder Trennung. Beziehungen würden in der Schule vor allem durch gemeinsame Erlebnisse geschaffen. Das seien Klassenfahrten, gemeinsame Auftritte oder Vernissagen.

Einer dieser Höhepunkte ist die Aufführung der "Melodie des Lebens". Einmal im Monat kommt der Komponist und Songwriter Mark Scheibe aus Berlin nach Bremen, um mit den Jugendlichen ihren Song zu schreiben. Die Schülerinnen und Schüler texten allein oder in kleinen Gruppen, finden ihre eigenen Melodien, und Mark Scheibe setzt die Ideen mit ihnen gemeinsam in professionelle Arrangements um. Am Ende steht eine große Aufführung, bei der die jungen Sängerinnen und Sänger vom Orchester der Kammerphilharmonie begleitet werden.

"Beziehungsarbeit braucht vor allem Kontinuität", sagt Schulleiter Utz. Dieser Erkenntnis wurde die gesamte Organisation der Schule untergeordnet. Von der fünften bis zur zehnten Klasse werden die Schülerinnen und Schüler immer von demselben pädagogischen Team begleitet. Dazu gehören neben den Lehrerinnen und Lehrern auch eine sonderpädagogische und eine sozialpädagogische Fachkraft. Gesellschaftswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Fächer werden im Verbund unterrichtet, damit die Schülerinnen und Schüler nicht so häufig wechselnde Fachlehrer haben. Bei so vielen Klassen würden die Lehrkräfte sonst kaum die Namen der Schülerinnen und Schüler kennen. "Diese Unterrichtsorganisation war nicht einfach und bedeutete für die Lehrkräfte viele interne Fortbildungen", sagt Utz. Dabei unterstützten sich die Pädagoginnen und Pädagogen gegenseitig, indem sie untereinander Unterrichtsmaterialien austauschten und sich gegenseitig in Workshops anleiteten. Schließlich sei es nicht selbstverständlich, dass ein Biologielehrer etwa auch Physik unterrichtet.

Schulleitung und Kollegium agieren an der Gesamtschule Bremen-Ost auf Augenhöhe. Die Lehrkräfte haben viele Spielräume für kreative Projekte, die ganz offensichtlich im Kollegium auch gern angenommen werden. Da ist ein Segelboot in Originalgröße, das in einem Bootsbauprojekt mit den Jugendlichen entstanden ist. Auf einer anderen Etage hat der naturwissenschaftliche Bereich eine Mini-Phänomenta mit skurrilen Versuchsanordnungen aufgebaut, und auf dem Schulgelände summen seit einigen Wochen sogar schuleigene Bienen.

Diese besondere Form der Beziehungsarbeit in Projekten zahlt sich aus: Obwohl sich die Schule in einem sozial benachteiligten Umfeld befindet, erreichen hier 54 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Berechtigung zum Übergang an die gymnasiale Oberstufe. Und auch in der Oberstufe ist die Gesamtschule vergleichsweise erfolgreich. Von den 62 Absolventinnen und Absolventen, die in Bremen und Bremerhaven im vergangenen Jahr ihr Abitur mit 1,0 bestanden haben, kamen fünf aus der Gesamtschule Bremen-Ost.

Wenn man die musikbegeisterte Akira fragt, was diese Schule von anderen unterscheidet, dann nennt sie an erster Stelle die Lehrerinnen und Lehrer: "Sie sind eher wie Partner. Man kann sie jederzeit ansprechen, man kann auch mit ihnen lachen, und sie merken sofort, wenn mit einem mal etwas nicht stimmt", sagt die Schülerin.

* alle Schülernamen von der Redaktion geändert