Porträt

Liam* ist ein Löwe. Wie Johan, Grace und Maja – auch sie gehören zum Rudel. Das Zuhause der Löwenfamilie liegt im zweiten Stock des Altbaus, eine Etage über den Igeln. Nebenan wohnen die Pinguine, die Eisbären und die Robben. „Herzlich willkommen bei den Löwen“ steht in großen Lettern auf der Eingangstür zu ihrem Reich. Doch wer das Revier betreten will, muss zuerst die Straßenschuhe ausziehen und die Jacke an der Garderobe aufhängen. Die „Löwen“ sind eine von neun Lernfamilien der Kettelerschule im Bonner Ortsteil Dransdorf. In einer Lernfamilie lernen jeweils 25 Kinder gemeinsam in heterogenen, jahrgangsgemischten und inklusiven Gruppen.

Insgesamt besuchen 225 Schülerinnen und Schüler die Gemeinschaftsgrundschule, etwa 70 von ihnen haben einen diagnostizierten Förderbedarf. Auch bei Löwe Liam ist Förderbedarf festgestellt worden, er wird im Schulalltag von Schulbegleiterin Jaqueline Fühling unterstützt. Doch diese ist heute krank, der Platz neben Liam bleibt frei. Der Tag bei den Löwen startet wie in allen Lernfamilien mit einem offenen Anfang. Grace nutzt die zeitliche Spanne zwischen Eintreffen im Klassenzimmer und tatsächlichem Unterrichtsbeginn zum Lesen und setzt sich Kopfhörer auf, um sich vom geschäftigen Treiben um sie herum nicht ablenken zu lassen. Johan und Maja suchen noch ihre Arbeitsmaterialien zusammen, bevor sie sich an ihre Plätze setzen. Liams Tisch ist in der Ecke hinten rechts. Während die meisten Löwenkinder noch durch das Klassenzimmer laufen, hat Liam sich schon tief über ein weißes Blatt Papier gebeugt. Er hält einen Bleistift fest in seiner Hand und drückt ihn mit ganzer Kraft auf das Papier. Langsam zeichnet er ein paar Linien und betrachtet die Striche. Unvermittelt steht er auf, zerknüllt das Blatt und wirft es in den Mülleimer. Er nimmt sich noch ein Blatt und beginnt von neuem. Mit dem Zirkel zeichnet er einen großen Kreis in die Mitte des Blattes. Dann nimmt er sein Lineal und zieht mit dem Bleistift behutsam eine Linie nach der anderen: Sonnenstrahlen. Linie um Linie wächst der Strahlenkranz der Sonne.

Inzwischen ist es 8:30 Uhr, Zeit für den Morgenkreis. Leise Musik ertönt – das Signal für die Löwen, sich um Sarah Dernbach zu versammeln. Sie ist die Klassenleiterin und so etwas wie das Familienoberhaupt der Meute. Die Runde beginnt mit einem Begrüßungsritual. Alle fassen sich an den Händen und sagen laut im Chor: „Wir wünschen uns einen guten Morgen“. Dann drehen sich die Löwen nach links, nach rechts, schütteln die Hände ihrer Sitznachbarin oder ihres Sitznachbarn und wünschen einander erneut einen guten Morgen. Ein freundlicher, achtsamer Umgang wird an der Kettelerschule großgeschrieben, das Motto des Monats lautet: „Ich bin respektvoll zu Erwachsenen und Mitschülern“. Nach der Begrüßung besprechen die Löwen die anschließende Lesezeit. Liam fällt es schwer, bei der Sache zu bleiben. Unruhig rutscht er auf der Bank hin und her, spricht dazwischen. Ein fester Blick von Sarah Dernbach genügt, und Liam ist wieder still. Wie eine Dompteurin hält sie die Löwenbande mühelos in Schach. Sie benötigt keine lauten Kommandos, sondern kommuniziert mit leisen Gesten.

Johan will heute ein Leserätsel für die Klasse schreiben. „Gute Idee“, lobt Sarah Dernbach und fragt in die Runde, wer ihm dabei helfen möchte. Sieben kleine Arme schnellen nach oben. Johan zögert – wen soll er auswählen? „Du weißt selbst am besten, mit wem du gut arbeiten kannst“, hilft Sarah Dernbach. Johan entscheidet sich für Charly*. Die beiden Jungs ziehen sich in den Nebenraum zurück. Ein großer Flur verbindet das Klassen- mit dem Nachbarzimmer. Hier findet am Nachmittag das offene Ganztagsangebot für die Löwen statt, doch auch am Vormittag wird der zusätzliche Platz genutzt, wenn Kinder beispielsweise konzentriert in kleinen Gruppen an einer Aufgabe arbeiten möchten. Johan und Charly setzen sich an einen der Tische. Allein bleiben die Jungs nicht. Erzieherin Gudrun Spiller hilft einer Handvoll Kindern, ihre Forschungsarbeiten zu beenden. Sie gehört wie Sarah Dernbach und Jaqueline Fühling fest zur Familie der Löwen. Ergänzt wird das multiprofessionelle Team durch Sonderpädagogin Ute Henning und Maria Graf, Erzieherin in Ausbildung. Während der gesamten Grundschulzeit bleiben die Kinder in ihrer Gemeinschaft – einmal Löwe, immer Löwe.

Johan und Charly, der eine im dritten und der andere im vierten Jahrgang, kommen schnell mit ihrem Leserätsel voran. Sie denken sich ein Märchen aus, Johan diktiert, Charly schreibt. Sie überlegen, wie sie geschickt Rätsel in ihr Märchen einbauen. „Die Klasse muss unsere Fragen nachher richtig beantworten, damit die Geschichte weitergeht“, erklärt Johan und ergänzt: „Wir sind beide richtige Schreibtypen. Wir schreiben gern und viel.“ Johan ist eines der zwei Löwenkinder, die mit der Leselernlandkarte schon fertig sind. Dahinter verbirgt sich ein besonderes Konzept der Kettelerschule. Zur Leselernlandkarte gehören zwei Plakate, die in jeder Lernfamilie gut sichtbar an der Wand hängen. Das eine Plakat zeigt eine farbige Landkarte, das andere Poster eine tabellarische Übersicht, die die Zeichen und Farben der Landkarte erklärt. Alle Kinder bekommen zum Schulstart eine graue Leselernlandkarte mit eingezeichneten Ländergrenzen. Jedes Land steht für eine andere Lesekompetenz. Hat ein Kind erfolgreich bewiesen, dass es die entsprechende Lesekompetenz beherrscht, darf es in der zugeordneten Farbe das entsprechende Land anmalen. Sogar die Arbeitsmaterialien zum Lesenlernen sind passend zur Leselernlandkarte farblich markiert. „So weiß jedes Kind jederzeit, was zu tun ist, welche Aufgabe als nächstes ansteht und mit welchen Arbeitsmaterialien und Übungen es sein Ziel erreicht“, erklärt Sarah Dernbach.

Die achtjährige Maja ist neben Johan das zweite Löwenkind, das schon alle Länder der Landkarte ausmalen durfte. Sie unterstützt den zwei Jahre älteren Liam, der heute ohne seine Schulbegleiterin zurechtkommen muss. Maja liest ein Buch und muss Fragen zum Text beantworten, Liam arbeitet in einem Heft für Lernende mit erhöhtem Förderbedarf. Wenn Liam nicht weiterkommt, hilft Maja. Die beiden kichern, lachen über die Maus, die in Majas Buch abgebildet ist. „Na, klappt das mit euch beiden?“, fragt Sarah Dernbach. Ihre Frage genügt, und die beiden Löwen widmen sich wieder ihren Aufgaben. Sarah Dernbach kam 2014 als Referendarin an die Schule und ist geblieben. Zunächst arbeitete sie als Vertretungslehrerin. Seit zwei Jahren leitet sie nun in einer festen Stelle die Lernfamilie der Löwen. Eine andere Schule kennenlernen? Das kommt für Sarah Dernbach nicht infrage. „Ich bin glücklich hier, ich lerne jeden Tag etwas Neues“, sagt sie. Sie schätzt das gute Miteinander, die Arbeit im Team, den „guten Blick auf das Kind“ und dass an der Kettelerschule „Inklusion wirklich gelebt“ wird. Allein bei den 25 Löwen gibt es zwölf Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Die sprachliche Vielfalt ist groß: „Arabisch, Kurdisch, Albanisch, Französisch, Serbisch, Türkisch …“, zählt Sarah Dernbach auf. Sieben Schülerinnen und Schüler haben einen festgeschriebenen Förderbedarf, bei zwei weiteren Kindern ist eine Leserechtschreibschwäche diagnostiziert worden. Sie alle lernen gemeinsam – Konzepte wie die Leselernlandkarte ermöglichen es ihnen, mit ihren persönlichen Lernvoraussetzungen im individuellen Tempo in einer Gruppe zu lernen.

Die meiste Zeit des Vormittags bleiben die Löwen unter sich, erst in der Hofpause verlassen die Kinder ihr Revier und toben sich zusammen mit Leoparden, Robben und Eisbären aus. Mit dem Gong stürmen die Kinder zurück in ihre Räume, so laut, dass sie fast die Durchsage übertönen: „Das Kinderparlament trifft sich jetzt in der Aula.“ Grace und Johan kehren um, sie vertreten die Löwen. Die Kinder müssen heute ein paar wichtige Entscheidungen treffen. Welche Lernfamilie kümmert sich um die Organisation des nächsten Fußballturniers? Was hat die Abstimmung zum Sportturnier der Mädchen ergeben? Und wie weit ist die AG, die sich neue Regeln für saubere Schultoiletten überlegt? 45 Minuten später hat Johan zwei große Wörter auf seinen Notizzettel geschrieben: „Fußballturnier“ und „Mädchenturnier“. Beide Turniere müssen die Löwen nun organisieren, Grace und Johan haben sich zweimal freiwillig zur Organisation der Wettbewerbe gemeldet, und zweimal hat das Los zu ihren Gunsten entschieden. Schaffen die Löwen das? Grace und Johan verschwinden hinter der Tür zum Löwenrevier. Daneben hängt ein kleines gerahmtes Bild mit einem Spruch: „Wir sind die Löwen, verstehen uns gut, wir halten zusammen und haben Mut. Löwen, Löwen, löwenstark!“

* Name von der Redaktion geändert