Porträt

Im alten Rom bewachten Gänse das Kapitol, im heutigen Malchow sorgen sie sich um die Schule. Schon von Weitem empfängt das Federvieh den Besucher mit aufgeregtem Geschnatter. Auf dem Pausenhof grasen Schafe, und als beim Betreten des Portals ein braunbunter Hahn im Rücken kräht, leuchtet ein, warum sich diese staatliche Bildungsstätte im Nordosten Berlins „Grundschule im Grünen“ nennt; durch die Beine an der Tür huscht Rudi, eine der fünf Schulkatzen. Die Wände zieren im Flur gemalte Landschaftsbilder voller Bäume, Tiere und Menschen. Es riecht nach Dung.

Diese Schule ist anders. Als Tobias Barthl 1991 ihre Leitung übernahm, war er 27 und voller Träume. Erhaltung der Natur sollte nicht nur den Lehrplan durchdringen, sondern auch gelebt werden. In den folgenden 18 Jahren entwickelte sich die Grundschule zu einem Abenteuerspielplatz für Lehrer und Schüler, auf dem sich die Schulleistungen über dem Berliner Schnitt bewegen. Und das liegt nicht nur an den vielen Tieren. Fünf Kinder stehen brav Schlange, um sich mit Christine Wolff zu besprechen. Es ist kurz nach acht, Mathematik steht in der „Lerngruppe 9“ auf dem Lehrplan. Doch Lehrerin Wolff steht weder an der Tafel noch hinter einem Pult, sie hat gar keinen: Im die ersten drei Jahrgangsstufen gleich zusammen beherbergenden Raum wandert sie von Tisch zu Tisch, begleitet von emsigem Getuschel.

„Wie viel ergeben diese Striche und Punkte?“, fragt sie Paula. Die Sechsjährige steht schon zum dritten Mal in fünf Minuten bei Christine Wolff. „Ich versteh das nicht“, sagt das Mädchen und schaut verzweifelt. „Schau“, springt die gleichaltrige Hannah der Lehrerin zur Seite. „Das ist wie eine Geheimschrift: Striche für Zehner und Punkte für Einer.“ In der „Lerngruppe 9“ unterrichten sich die Schüler auch untereinander, bilden spontan Kleingruppen. Hier die hörgeschädigte und unsichere Paula, und dort die hochbegabte Hannah, die gleich nach der Einschulung mit dem Lehrstoff für Drittklässler eingestiegen ist. Alle profitieren von diesem Mix. Paula begreift das Strichsystem und Hannah fühlt sich gebraucht. Am Ende der dreißigminütigen Arbeitsphase ertönt ein Windspiel und die Schüler ziehen Bilanz. „Ich bin heute besser vorangekommen“, sagt die neunjährige Shirley in die Klasse, „es war leiser als gestern.“

Das Erfolgsrezept in Malchow heißt Vielfalt. Die Schüler kommen aus Durchschnittsfamilien: 17 Prozent von ihnen beziehen Schulbücher vom Staat, kommen aus bedürftigen Familien. 9,3 Prozent sind hochbegabt, 8,4 Prozent sind Integrationskinder mit Beeinträchtigungen. Gerade hyperaktiven Schülern mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADHS empfehlen Ärzte die Grundschule im Grünen; angesichts der vielen Tiere und der sich daraus erwachsenden Aufgaben, der zahlreichen Angebote und des starken inneren Zusammenhalts verschwinden ihre Besonderheiten.

Vor den Tieren sind alle gleich: „Wo ist Windel-Winni?“, fragt Liv. Sie steht im rohsteinernen Hasenhaus der „Knirpsenfarm“ auf dem Schulhof und sucht ihren Lieblingshasen. Doch Winni, hinten weiß und vorne braun, hat sich ins Stroh verzogen. Die Achtjährige zieht weiter zu Minischwein Fritzi, das auf dem freien Gelände umhertappt, entlang der Hühner, Tauben und Gänse. Eine einzige Tierpflegerin für die 16.000 Quadratmeter großen Gehege hat die Schule angestellt. Die restliche Fürsorge erledigen 1,50- Euro-Jobber von der Arbeitsagentur – und vor allem die Schüler selbst.

Im dritten Stock des Fontanegebäudes reinigen Josi, Benni und Annabel die Klos der Wüstenrennmäuse, schnippeln Kohlrabi und Mohrrüben aus dem eigenen Schulgarten für sie klein und wenden sich den Rotwangenschildkröten zu; auch die Stabheuschrecken und kleinen Hummer warten auf Futter. In jeder Pause ist eine andere Klasse dran mit der Aufsicht und Pflege ihrer kleinen Lieblinge. Einen ganzen Schultag lang in der Woche widmet sich eine Klasse den Arbeiten im Grünen – Eltern inklusive.

Ökologische Bildung beginnt mit dem Bestaunen der Vergänglichkeit, aber auch der Entstehung und Entwicklung von Leben – und eben auch im Begreifen seiner selbst als Lebewesen. In der Malchow-Schule sind sie schon weiter: In Deutschland einzigartig, lernen die Schüler im Regelfach „Umweltlehre“ über Müllproblematik, regenerative Energiequellen, gesunde Ernährung und Klimaschutz.

Das Schuldach ziert eine Photovoltaik-Anlage, sechs Haushalte im Jahr kann sie mit Strom beliefern. Die Schüler züchten Honigbienen, kochen Marmelade aus geernteten Früchten und backen im selbst gebauten Lehmofen Brot. Beim Betrachten der Grundschule im Grünen zeichnet sich ein einheitliches Bild ab, plötzlich erhält das so abstrakte Wort „Nachhaltigkeit“ konkrete Züge: im Stolz, den die Pennäler auf ihre Schule zeigen. So wie Uwe, Anja und Nadine, sie stehen im Foyer hinter ihrem „Upi-Shop“ (wofür Upi steht, das fragen sie sich schon seit langem) und warten auf Kundschaft. Umweltfreundliches Papier, Umschläge, Bleistifte und Holzkulis verkaufen die drei von der Schülerfirma. „Damit finanzieren wir unser Tiergehege“, erklären sie und recken sich noch ein wenig höher. In der ersten Pause haben sie schon 5,40 Euro eingenommen.

Kein Wunder, dass hier Lehrer und Schüler mehr Zeit verbringen als an anderen Schulen. Zwar sind viele Engagements über so genannte „Angebotsstunden“ in den Unterricht eingebunden, aber zahlreiche freiwillige Arbeitsgemeinschaften beleben Klassenzimmer und Gehege bis in den Abend hinein. Anfangs hatte es Schulleiter Tobias Barthl nicht leicht. Viele Malchower beobachteten den Wandel ihrer alten Dorfschule in eine grüne Natur-Lehrstätte mit Argwohn. So viel hatte sich für sie verändert: Zuerst Mitte der Achtziger die wuchtigen Hochhäuser, die das Dorfbild zerschnitten und wie in den Boden gerammt die Schule umschließen – „Honneckers letzte Rache“ sagt dazu der Volksmund. Dann der Fall der Mauer und plötzlich Lehrer, die von Ökologie sprachen. Doch von Jahr zu Jahr wuchs die Akzeptanz. „Zu uns kommen auch Schüler aus Mitte, Charlottenburg oder Schöneberg“, sagt Tobias Barthl. 466 Schüler zählt nun die Einrichtung, nur wenige kommen aus der Nachbarschaft – denn das kleine Malchow gibt nicht viel her. „Um zu bestehen, müssen wir überzeugen“, fasst Barthl zusammen. „Wir sind ähnlich organisiert wie eine Privatschule.“

Heute besuchen die Anwohner auch am Wochenende den kleinen Schulzoo. Rentner unterstützen in den Lesestunden die Lehrer. Und Gruppen von anderen Schulen besichtigen das Feuchtbiotop und die Gartenarbeitsschule mit ihren vielen Beeten sowie den zwei Gewächshäusern. Die Schule hat sich zum Schnittpunkt für die Dorfbewohner entwickelt. Etwas Neues ist da entstanden: Das Grau der Hochhäuser wird zwar von Tag zu Tag grauer. Doch das Gesicht Malchows ist nun ein anderes. Es trägt grün.

Jan Grübel