Porträt

Plötzlich lugt ein Kind durchs Loch in der Mauer. Es schiebt einen Koffer, kriecht hindurch, schaut vorsichtig und still umher. Fünf Meter entfernt ein weiteres Loch und ein weiteres Kind – immer mehr schlüpfen heraus. Sie setzen sich in Grüppchen zusammen, packen aus und essen, manche spielen. Mit einem Male schauen alle nach vorn. Stehen auf, lassen alles liegen, fassen sich an den Händen und verlassen wie an einem Seil den Platz, der in Wirklichkeit eine Aula ist, hier bei der Theaterprobe der Grundschule Borchshöhe in Bremen.

"Großes Kompliment", ruft Regisseur Hans König, "diese Ruhe war phantastisch, und das schon bei der zweiten Probe!" König ist ein "Externer", er macht eigentlich Theater mit Erwachsenen, ist kein Pädagoge. Hier dirigiert er alle - sämtliche 240 Schülerinnen und Schüler, die Lehrerinnen und Lehrer, auch die Reinigungskräfte und den Hausmeister. "Ein Stück Heimat" heißt das mit den Schülerinnen und Schülern entwickelte Stück, und es ist nicht einfach nur ein Schauspiel. Es ist eine Grundsäule des Schullebens. In allen Fächern dient das Thema "Heimat" als tragender Gestaltungsgedanke. Er meistert die Herausforderung, "anders zu lernen", weil sich die Theaterarbeit stark auf Leistung und Unterricht auswirkt, auf Schulklima und Verantwortung, auf den Umgang mit Vielfalt und kollegiale Lernprozesse. Wie ist das nur möglich?

Mit Kuschelpädagogik jedenfalls nicht. Kurz vorher hatte König zwei Jungs mit harschem Ton des Saals verwiesen, sie hatten sich wiederholt gekabbelt. Eher spinnt sich der rote Faden des Schultheaters durch das Vertrauen in das Selbstlernpotential der Schülerinnen und Schüler fort und durch die Verwandlung der Klassenzimmer in Lernhäuser nach skandinavischen Konzepten.

"Hör, wir klatschen gemeinsam: Mo-fa, So-fa"

Seit 16 Jahren arbeitet man in der Grundschule Borchshöhe schon so. Im Lernhaus "Grün" zückt Swenja* nach der Probe einen Buntstift und schraffiert eine Tabelle im Heft "Unsere Schule", eine Datenerfassung über das Alter ihrer Mitschüler und aus welchen Nationalitäten sie sich zusammensetzen - ein Stück Heimatkunde in Mathematik. Das Lernhaus teilt sich in zwei Stufen. Links der Raum für die Jahrgänge eins bis drei, und durch eine Tür getrennt der Raum für die Jahrgänge drei bis sechs: Jeweils 20 Schülerinnen und Schüler gehen ihrer selbstgewählten "Lernarbeit" nach, die "Drittklässler" sind je nach Entwicklungsstand hüben und drüben. Sowieso wechseln alle munter. In Stufe eins lehrt Lisa Lohmann für alle Mathe und in Stufe zwei Isil Özel Deutsch. Uwe* zum Beispiel hat gerade die Checkliste zum Schreiben eines Briefes abgearbeitet. "Prima", sagt Özel, "dann kannst du ja die Multiplikationen weitermachen." Da steht schon Zweitklässlerin Eva* von drüben vor ihr, Silbentrennung will ihr einfach nicht gelingen. "Hör, wir klatschen gemeinsam: Mo-fa, So-fa", flüstert Özel. Beide Lehrerinnen meistern den Spagat, in ihrem Raum genau die Lernenden zu beobachten und auch ansprechbar für die Fragen von drüben zu sein. Entspannt sehen sie dabei aus.

Aus der Ecke blinzelt ein Porträt von Mutter und Kind von Paula Modersohn-Becker. Gegen Ende dieser Unterrichtsphase eilt Ahmad* zu den Toiletten. Heute ist er zuständig für den dreimaligen Check, ob alles in Ordnung ist. Fehlen Tücher oder Seife, informiert er das Personal. Man übernimmt Verantwortung füreinander.

Diese Grundschule Borchshöhe ist ein historischer Glücksfall. In den späten Fünfzigern des vorigen Jahrhunderts erbaut, erstrecken sich die niedrigen Flure wie verglaste Kreuzgänge eines Klosters weitläufig von Anbau zu Anbau; diese lichtdurchflutete Lehrstätte ist natürlich gewachsen. In ihrer Nachbarschaft stehen mit Hecken bewehrte Einfamilienhäuser neben rotgebrannten Ziegeln des sozialen Wohnungsbaus aus den Siebzigern, die Gegend ist ein Abbild Deutschlands in all seinen Facetten.

Multiprofessionelle Teams begleiten die Schüler

45-Minuten-Takt und Schulglocke sind Vergangenheit. Multiprofessionelle Teams aus Lehrern, Erziehern und persönlichen Assistenzen begleiten die Schülerinnen und Schüler bei ihren individuellen Wochenplänen als echte Motivatoren. Gerade kommt das Team des Lernhauses "Türkis" zusammen. "Was machen wir mit Chris*?", ist die zentrale Frage. "Der rasselt derzeit mit jedem zusammen", sagt Erzieherin Sabrina Taucke. Er ist einer der beiden Rabauken, die gerade aus der Theaterprobe flogen. "Es wird für ihn schwierig, wenn er die Übersicht verliert", sagt Lehrerin Rena Rützel.

"Vielleicht könnte man ihn öfters begleiten, oft gibt es zum Beispiel auf den Laufwegen Stress", schlägt Referendarin Maara Dethleffsen-Wenzel vor. "Eigentlich ist er ein Kandidat für den Verstärkungsplan", meint Erzieherin Isabella Hubl. Ihre Nachbarin, die persönliche Assistenz Marlies Schwane, nickt. Chris* ist zwar keines von den Kindern mit Förderbedarf, um die sie sich kümmert. Er kommt aber aus einer krisengeschüttelten Familie. Die Eltern trennen sich, kommen wieder zusammen und trennen sich, die Mutter hat psychische Probleme. "Im Verhalten mit Gleichaltrigen hat er einfach Probleme", sagt sie. Der Verstärkungsplan würde seinen Tag genauer einteilen, Reflexionseinheiten schaffen. Die Zeit zum Miteinander-Reden nimmt man sich hier. Von den Lehrkräften verbringt eine Vollzeitkraft neben der Unterrichtszeit weitere 14 Stunden in der Woche an der Schule. Überhaupt dominiert der Teamgedanke an der Grundschule Borchshöhe. Das Lehrerzimmer heißt "Mitarbeiterraum", es finden sich mehrere Schreibtische und Computerarbeitsmöglichkeiten. Im Büro sitzt Rektorin Gunda Strudthoff ihrer Stellvertreterin Özel am selben Tisch gegenüber, Hierarchien wirken wie aufgelöst. "Ich selbst lehre hier seit 15 Jahren", sagt Strudthoff, "und seit drei Jahren bin ich Rektorin. Diese Schule hat schon einen weiten Weg zurückgelegt."

Aus Strudthoffs Büro im Erdgeschoss tritt man durch eine Terrassentür in den Schulgarten. Draußen trägt Jakob* ein paar Kartoffeln mit stiftlangen Keimen zu einem Beet. "Ich war hier mal Schüler", sagt der 19-Jährige, "und zwar ein ziemlich frecher. Habe mich viel geprügelt, aber dann sozial verbessert. Die Schule ist mir heimisch geworden." Er absolviert seit vergangenem Oktober einen Bundesfreiwilligendienst. Auch nach der 6. Klasse habe er immer wieder vorbeigeschaut, "alle sind so nett hier". Später wird Strudthoff, seine ehemalige Lehrerin, erzählen, wie man ihn damals zwischen 7:45 Uhr und 8:15 Uhr in der Aula Fußball spielen ließ, dann sei er ruhiger im Unterricht gewesen.

Es geht auf Mittag zu. Während die Schülerinnen und Schüler zum Essen eilen, übt ein Dutzend in der Aula "Ein Stück Heimat"; den Vormittag über hat Regisseur König Gruppen nacheinander in der Aula proben lassen. "Bitte lauter", ruft er acht Schülerinnen und Schülern in Feldbetten auf der Bühne zu, "ich weiß, dass ihr das könnt - wie auf dem Schulhof!" Nebenan lärmt es in der Kantine. Da tritt Gloria* vor. "Vor vielen Jahren, da bin ich auch aus einem fernen Land gekommen", sagt sie und wendet sich an die Kinder hinter ihr. "Alles war mir neu und fremd. Wie es ist, wenn man beginnt zu begreifen, dass nichts mehr ist, wie es war. Und es ist schwer, etwas loszulassen, das man lieb hat." Dann ist es still. Selbst den Krach aus der Kantine hört man für einen langen Moment nicht mehr.

* alle Schülernamen von der Redaktion geändert