Porträt

Ein Blick durch die angelehnte Tür lässt zuerst zweifeln, ob hier eine Schule ist. Keine Tische, keine Bänke, die Tafel fehlt – und wo ist der Lehrer? In der einen Ecke lesen drei Schüler, ein Mädchen schreibt daneben still in ein Heft, zwei Jungs zählen Spielzeugautos, einige Kinder liegen auf dem Boden und zeigen sich gegenseitig bunte Kärtchen.

An der Grundschule Gau-Odernheim sieht Unterricht immer so aus: selbständig, kreativ, offen. In der Klasse der „Haie“ lernen Erst- bis Viertklässler zusammen und jeder das, was er gerade möchte – oder das, was er noch nicht so gut beherrscht. Vier Lehrkräfte sind heute da, eine von ihnen, Susan Kayser, sitzt an einem großen runden Tisch neben Leon und übt mit ihm neue Verben. „Veeeer...“, fängt die Lehrerin an. „Veeer...suchen!“, ergänzt Leon. Links daneben sitzt Freya. Ihr zeigt sie parallel, wie man im Zehnerraum addiert. Sieben plus zwei, da stimmt doch was nicht. Freya schmunzelt, radiert, Susan Kayser zeigt auf einen Strang Holzperlen. „Zähl nochmal! Zehn ist nicht richtig.“ Da schaut ihr von hinten Lilly über die Schulter. Sie möchte wissen, ob ihr Zahlenstrahl korrekt ist. Individueller Unterricht bedeutet für Lehrer einen erheblichen Mehraufwand, jedes Kind braucht Aufmerksamkeit. „Aber inzwischen kann ich mir ein anderes Arbeiten nicht mehr vorstellen“, sagt Susan Kayser.

Das Konzept der Schule in Rheinhessen ist noch jung. Als Erzieherin Silvia Lamby vor zehn Jahren an die Schule kam, gab es noch klassischen Unterricht bis mittags. Vor sieben Jahren begann dann die Umstellung auf den offenen Ganztagsunterricht. Für die Umstellung bekam jeder Lehrer seine Zeit: „Die Veränderungen wurden nicht erzwungen, die Schulleitung ermöglichte uns eigene Wege zu finden“, sagt Silvia Lamby. Jeder gestalte das individuelle Fördern so, wie es zu ihm passe. „Einige Kollegen arbeiten völlig frei mit den Kindern, bei anderen sind mehr klassische Unterrichtselemente enthalten.“ So ist die Grundschule Gau-Odernheim keine reine Walddorfschule, keine offizielle Montessori-Pädagogik oder Freinet, sondern von allem etwas. Vielfalt, ein Leitwort an der Schule, betrifft nicht nur Schüler, sondern setzt sich im Kollegium fort.

Vielfalt kann auch eine Herausforderung sein. Die Schule macht daraus eine Stärke: Sie setzt gezielt auf Inklusion, darum lernen in Gau-Odernheim Kinder mit und ohne Behinderung zusammen. Gemischt sind die Jahrgänge auch im Alter. Kinder von sechs bis zehn Jahren lernen zusammen, voneinander, übereinander. „Begabungsgerechten Unterricht“, nennt Susan Kayser das. „Und Begabung richtet sich nun mal nicht nach dem Alter.“ Einige Schüler bräuchten eben mehr Unterstützung, andere weniger. Die Lehrer müssen den Leistungsstand des Einzelnen daher sehr genau beobachten.

Die Kinder lernen auch, sich selbst einzuschätzen. Jeder muss sich einen eigenen Tagesplan erstellen. Luisa hat dafür ihr orangefarbenes Logbuch. Jeden Morgen notiert sie, was sie sich für den Tag vorgenommen hat; heute stehen ein Aufsatz und das Multiplizieren der Zahlen bis Zwanzig an. Am Nachmittag wird sie im Logbuch bilanzieren, ob sie alles gemeistert hat. „Bisher komme ich gut voran“, sagt sie schon mal ganz stolz. Kein Grund zum Faulenzen, da ist Luisa streng mit sich. „Wenn ich merke, ich kann noch mehr, dann mache ich noch eine neue Aufgabe.“

Das selbständige Arbeiten funktioniert vor allem, weil die Schüler Spaß am Lernen haben. Noch bevor um acht Uhr der Unterricht losgeht, üben einige Dritt- und Viertklässler zusammen ein selbst geschriebenes Theaterstück auf Englisch. „Alle Kinder sind von sich aus wissbegierig“, sagt Susanne Rammenzweig-Fendel. „Es sind leider oft die Schulen, die ihnen die Freude am Lernen nehmen.“ Die Schulleiterin der 280 Kinder versucht daher, die Motivation der Kinder dezent zu lenken. Schließlich sollen die Kinder nicht nur ihren Neigungen nachgehen. Auch das Mathe-Ass muss schreiben lernen und die Leseratte den Mathetest schaffen. „Offener Unterricht heißt nicht, dass es hier nur Freiräume gibt“, betont Susanne Rammenzweig-Fendel. Es sei eine Mischung aus Anspannung und Entspannung nötig, um die Kinder zu fördern ohne zu überfordern. Das klappt in Gau-Odernheim so gut, dass einige Schüler nach Schulschluss gar nicht nach Hause wollen, sondern lieber noch etwas weiterbasteln, forschen oder lesen.

Individuell ist auch die Beurteilung. Bis zum vierten Jahrgang stehen im Zeugnis keine blanken Zahlen sondern kurze Texte, die das Lernniveau des Schülers beschreiben. Vieles, was die Grundschule Gau-Odernheim ausmacht, kennen die Eltern aus ihrer eigenen Schulzeit nicht, das führt manchmal zu Vorbehalten. Daher beziehen die Lehrer die Eltern so gut es geht in ihre Arbeit ein. Alle zwei Wochen schreiben sie ihnen eine Rückmeldung über den Wissensstand ihres Kindes. Elternsprecher Andreas Gallhuber schickt inzwischen sein zweites Kind auf die Schule. Auch er war am Anfang skeptisch, sich auf das pädagogische Neuland einzulassen. Sechs Monate dauerte es, bis er den Lehrern vertraute – und seiner Tochter. „Das hier ist eine Schule für jedes Kind“, sagt er. „Aber nicht für jedes Elternteil.“ Viele Eltern befürchten, das eigene Kind sei unterfordert, wenn die Leistungsunterschiede groß sind. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Die Kinder setzen sich gegenseitig Lernanreize. Das zeigen die Schüler im täglichen Abschlusskreis: Heute rechnet Luca dort eine Aufgabe vor, die er sich ausgedacht hat. Etwas Schwieriges hat er sich überlegt, 261 geteilt durch 17. Die Zweitklässler staunen: „Das geht doch gar nicht auf?“ Luca erklärt ihnen seinen Rechenweg. „Nur was du anderen erklären kannst, hast du auch selbst verstanden“, erläutert Lehrerin Susan Kayser das Prinzip.

Das innovative Schulkonzept hat sich herumgesprochen, denn bundesweite Vergleichstests zeigen, dass diese Pädagogik erfolgreich ist: In der Jahrgangsstufe 3 schnitt die Grundschule Gau-Odernheim sehr gut ab, im Fach Deutsch überdurchschnittlich. Vertreter anderer Schulen kommen vorbei, um sich zu informieren. „Man muss nicht gleich sein eigenes Konzept komplett umwälzen“, sagt Susanne Rammenzweig-Fendel. „Aber wer einmal mit seinen Drittklässlern ein Projekt mit den Schulanfängern seiner Kollegin gemacht hat, der merkt schnell, wie gut offener Unterricht für die Kinder ist.“

Lernen lernen lautet das Credo. Und die Lehrer folgen diesem Leitsatz genauso wie die Schüler. Ihre moderne Pädagogik stecke noch immer in der Entwicklung, scheut sich Schulleiterin Rammenzweig-Fendel nicht zu sagen. „Wir sind ein lernendes System und betrachten uns immer wieder kritisch.“ Es gibt wöchentliche Teamsitzungen, Evaluationen und ein schuleigenes Curriculum, das stetig optimiert wird. Lernen heißt auch, dass nicht alles gleich funktioniert. „Wir haben auch manches versucht, was sich als Einbahnstraße entpuppt hat, aber nur so können wir uns verbessern.“ Es ist wie in Freyas Rechenheft: Da wird viel radiert, verbessert – aber am Ende stimmt das Ergebnis.