Porträt

Eine gelbe Linie auf dem Asphalt markiert die Grenze. Daneben: Eine Bank zum Sitzen, falls es mal etwas länger dauert. Weiter dürfen die Eltern nicht, wenn sie ihre Kinder zur Schule bringen oder sie wieder abholen wollen. Vielen fällt es am Anfang schwer, ihr Kind mit dem großen Schulranzen auf dem Rücken ganz allein davongehen zu sehen. Doch von Anfang an erklären die Lehrer ihnen, wie wichtig Selbstständigkeit für die Entwicklung der Kinder ist. Sie regen an, dass die, die in der Nähe wohnen, den Schulweg allein gehen. Kinder, die gebracht werden müssen, können sie, statt an der Schule, ein paar Straßen vorher absetzen. Oder sie können sich mit dem Bringen abwechseln, so dass nicht immer die eigene Mutter oder der eigene Vater die Kinder fährt. „Aber wenn Kinder oder Eltern starke Trennungsängste haben, zwingen wir ihnen natürlich nicht unsere Vorstellungen auf", so Schulleiterin Brigitte Dörpinghaus. „Sondern setzen uns behutsam damit auseinander und suchen gemeinsam nach der Ursache."

Die Schüler zu größtmöglicher Selbstständigkeit zu erziehen ist ein wichtiges Ziel der Remscheider Gemeinschaftsgrundschule Hackenberg. Die 264 Erst- bis Viertklässler sollen sich nicht als unfertige Wesen erleben, die erst noch erwachsen werden müssen, sondern als mündige Forscher, als Entdeckereiner großen, spannenden Welt.

Die Schule gehört den Kindern, das sieht schon, wer den Schulbau betritt. Über und über sind die Flure dekoriert mit Fotos, mit Hasen und Pinguinen aus Pappe und getuschten Meerjungfrauen, deren Fischschwänze aus Alufolie lustig glitzern. Freundlich sieht es auch in den Klassenräumen aus. Die Tische in den hellgelb gestrichenen Räumen sind nicht zur Tafel gerichtet, sondern bilden, zu Gruppen zusammengestellt, kleine Inseln im Raum. Konzentriert arbeitet jedes Kind an seiner Aufgabe. Die siebenjährige Jaqueline übt lesen. Dazu sucht sie sich aus einem Hängeregister das Heft mit ihrem Namen darauf. Dann marschiert sie zu dem großen Holzregal an der Rückwand des Klassenraums. Es ist voll mit Büchern, Materialkisten, Logik-Spielen und Arbeitsblättern. Jaqueline greift sich ein Ringbuch heraus, in dem auf jeder Seite ein kurzer Satz steht. „K" spricht sie den ersten Buchstaben leise aus. Dann kommt ein Buchstabe, der ihr noch nicht so geläufig ist. Sie schaut neben die Tafel, dort hängen die Buchstaben groß an der Wand, zusammen mit je einem Bild von einem Gegenstand, der mit diesem Buchstaben anfängt. "Kö", murmelt sie, dann „König", die erste Aufgabe ist gelöst. Ihr Mitschüler Deniz befasst sich derweil mit dem Buchstaben „I". In der Hand hält er rosafarbene Bilderkarten, auf dem Tisch liegt verdeckt das dazugehörige Lösungsblatt. Karte für Karte schaut er sich an und sortiert die Begriffe heraus, die mit „I" beginnen. Ein Iglu und eine Insel liegen schon auf dem Stapel, es folgen ein Igel und ein Indianer. Am Ende dreht er das Lösungsblatt um und schaut, ob er alle Karten richtig herausgesucht hat.

Die Kinder kontrollieren nicht nur eigenständig ihre Ergebnisse, sondern sie dokumentieren auch selbst, was sie erledigt haben. Mit Zettelkästen, in die sie die Wörter einsortieren, die sie schon beherrschen, und „Lernpässen", in die sie Aufgaben, die sie bewältigt haben, eintragen. Eigenständigkeit bedeutet jedoch nicht, dass die Kinder mit dem Lernprozess alleingelassen werden. Während die Kinder arbeiten, geht Lehrerin Anne Keller durch den Raum, sieht den Kindern über die Schulter, mahnt sie zur Ruhe, wenn sie zu zappelig werden, und schaut, ob sie Wörter auch richtig schreiben. „Wir verstehen uns nicht als Wissensvermittler", erklärt sie, „sondern wir organisieren und begleiten das Lernen."

Keller und ihre Kollegen gehen davon aus, dass Kinder von sich aus Lust haben, zu lernen. Sie wollen können, was die Großen können. Herausfinden, wie die Welt funktioniert. „Hilf mir, es selbst zu tun", lautet der Grundgedanke der Reformpädagogik, die Maria Montessori Anfang des 20. Jahrhunderts begründete. Neben den vier jahrgangsgemischten ersten und zweiten Klassen und den je zwei dritten und vierten Klassen, gibt es in der Grundschule Hackenberg auch zwei Montessori-Klassen, in denen Kinder von der ersten bis zur vierten Klasse gemeinsam unterrichtet werden. Noch stärker als in den anderen Klassen können sich die Großen hier als Experten wahrnehmen, die den Kleineren helfen können. Und sie lernen früh, wie man das behutsam macht: Vorsagen ist ebenso verboten, wie ein Kind auszulachen, weil es einen Fehler macht.

Fehler sind an der Grundschule Hackenberg alles andere als eine Katastrophe. Sie gehören zum Lernen dazu, sind wichtige Informationsquellen für Lehrer und Kinder: Wo hat sich der Stoff noch nicht in den Köpfen verankert? Auf welchem Feld braucht jemand Hilfe? Dass Fehler sein dürfen, müssen die 23 Lehrerinnen vor allem den Eltern regelmäßig erklären. Die sind es aus ihrer eigenen Kindheit gewohnt, dass man am besten durch die Schule kommt, wenn Diktate und Hausaufgaben möglichst ohne Patzer abgeliefert werden. Doch bei Brigitte Dörpinghaus schrillen die Alarmglocken, wenn ein Kind mit allzu perfekten Hausaufgaben in die Schule kommt. Das bedeutet nämlich zuweilen, die Eltern haben nachgeholfen, oder das Kind hat viel zu lange an der Aufgabe gesessen. Für die Dauer der Hausaufgaben gelten an der Remscheider Schule strenge Regeln: Die Erst- und Zweitklässler sollen eine halbe Stunde arbeiten, die größeren eine Stunde. Hausaufgaben sind zum Üben da, nicht als Strafe für schwächere Kinder. Für die Kinder ist der souveräne Umgang mit Fehlern selbstverständlich. Selbstbewusst meldet sich die blonde Lisa aus der vierten Klasse, als ihre Lehrerin fragt, ob jemand Schwierigkeiten bei der Mathe-Hausaufgabe hatte. „Ja, ich, auf Seite 16. Ich wusste nicht, wie man das ausrechnet." Sie bringt das ganz sachlich vor, ohne Scham. „Wer hatte die Probleme noch?", fragt die Lehrerin, und ruft die, die noch Fragen haben zu sich, um die schwierige Aufgabe noch einmal durchzugehen.

Dass die Lehrer auf die Bedürfnisse jedes Kindes eingehen, macht es möglich, dass auch Kinder mit besonderem Förderbedarf und hochbegabte Kinder in den Klassen mit unterrichtet werden. Sie bekommen auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Aufgaben und werden von Sonderpädagoginnen betreut. Acht Kinder, denen das Lernen besonders leicht fällt, treffen sich einmal in der Woche zum „Selbstlernen" in der Schulbibliothek. Im Augenblick arbeiten sie zum Thema „China". Die Viertklässlerin Lisa sitzt am Computer und stellt eine Power-Point-Präsentation zusammen. Dafür durchforstet sie das Internet nach Fotos von chinesischen Wohnhäusern. Derweil beugt sich Mitschülerin Couna über ein Poster, das sie zum Thema „Wirtschaft" begonnen hat. „Die meisten Menschen verdienen wenig", schreibt sie mit Filzstift darauf. Ihre Ergebnisse wollen die Kinder in einer Ausstellung präsentieren. „Darauf freue ich mich schon", sagt Couna. „Dann können alle sehen: Das haben wir ganz alleine gemacht."

Sara Mously