Porträt

Freitagvormittag. Die Schüler im Unterrichtsraum von Englischlehrer Dieter Handke machen, was sie wollen. Der zwölfjährige Mikail lernt Französischvokabeln. Aylin, 15, arbeitet einen Text von David Hume für den Philosophieunterricht durch. André, 13, übt Kommaregeln und die elfjährige Julia Vergangenheitsformen auf Englisch. Und Dieter Handke? Der 63-jährige dreht seine Runden.

Zwei Mal am Tag geben die Schulstunden am Gymnasium Alsdorf ein eigentümliches Bild ab: Die Schüler entscheiden selbst, wo sie arbeiten, also mischen sich alle Jahrgangsstufen – vom Fünftklässler bis zum Abiturienten – in den Unterrichtsräumen. Damit nicht genug: Die Schüler wählen auch selbst, woran sie arbeiten. Das Schüler-Potpourri ist auch möglich, weil es keine „Klassenzimmer“ mehr gibt. Die Räume sind grundsätzlich Lehrern zugeordnet. In normale Unterrichtsstunden pilgern die Schüler als Klassen- und Kursverbände zu ihnen. In den sogenannten „Daltonstunden“ sind die Stufen- und Fächertrennung aufgehoben. Es trudelt ein, wer will.

Mikail, der bald einen Französischtest schreibt, muss Vokabeln büffeln. Er hatte noch nie Unterricht bei Dieter Handke, doch am Freitagvormittag kann man in dessen Raum gut lernen. „Hier wird wenig geredet“, weiß er aus Erfahrung. Aylin hat sich mit ihren Freundinnen Kyra und Mara in Dieter Handkes Raum verabredet. Der Englischlehrer kann ihnen zwar nur bedingt Fragen über Hume beantworten, aber „wenn etwas unklar ist, helfen wir uns gegenseitig.“ Julia gehört zu denen, die in dieser Daltonstunde keine Wahl hatten. In ihrem „Daltonplaner“, einem DIN A4-Heft, in dem die Aufgaben der laufenden Woche vermerkt sind, steht: „Past Tenses!“. Der Eintrag stammt von Dieter Handke. Wenn in einem Fach Nachholbedarf besteht, können die Lehrer die Daltonstunden reservieren. Bei Bedarf kann die Freiheit also auch eingeschränkt werden. „Schüler lernen in unterschiedlichem Tempo“, so Handke. „Das ist das größte Problem von starren Stundenplänen.“

„Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, dass sich Lernen dem Stundenplan anpassen muss“, sagt Wilfried Bock. „Es ist genau umgekehrt." Der 53-jährige Schulleiter war die treibende Kraft hinter der Einführung des „Daltonplans“ am Gymnasium Alsdorf. Das Konzept, entwickelt von der amerikanischen Lehrerin Helen Parkhurst, wurde erstmals 1920 in Dalton/Massachusetts umgesetzt – daher der Name. Es räumt Schülern so viel Freiheit wie möglich ein, um ihre Verantwortung und Selbständigkeit zu schulen. Doch was, wenn die Schüler ihre Freiheit nutzen, um „Käsekästchen“ zu spielen? Das komme schon mal vor, gibt Wilfried Bock zu. Tagesformen variierten eben. Unterm Strich sei Unterricht, der darauf Rücksicht nehmen kann, aber viel effektiver. „Ein Schüler, dem in der 5. Stunde die Augen zufallen, wird die Binomischen Formeln wohl kaum lernen. Da hilft auch kein Frontalunterricht.“

Als Wilfried Bock 2002 seine Stelle als Rektor in Alsdorf antrat, war die ganze Region im Formtief. „Anna“, die größte Kokerei Europas, hatte 1994 dichtgemacht und neben einer Landschaft aus Kratern und Halden ein riesiges Loch im Arbeitsmarkt hinterlassen. Soziale Probleme nahmen zu – und spalteten die Gemeinde: Wer seine Kinder fördern wollte, schickte sie auf ein Gymnasium im Nachbarort. Die Folge: Am Gymnasium in Alsdorf war das Niveau ohne starke Schüler nicht zu halten. Schnell war der Ruf ruiniert, die Zahl der Anmeldungen rückläufig, das Kollegium frustriert.

„Ich hab’ direkt gesagt: Hier läuft vieles nicht richtig.“ Wilfried Bock ist eigentlich ein geeigneter Überbringer schlechter Nachrichten: Sein rheinischer Zungenschlag verpackt selbst Schelte in ein Schmunzeln. Als er seinem Kollegium wenig später eröffnete, dass Lehrer in Nordrhein-Westfalen künftig für weniger Geld mehr arbeiten müssten, verging den meisten das Lachen. Günstige Bedingungen für einen Wandel sehen anders aus. Aber Wilfried Bock ist keiner, der so einfach aufgibt. Der Sohn eines Schumachers besuchte zunächst die Realschule, das Abitur auf einem Internat sparten sich die Eltern vom Mund ab. „Vielleicht kann ich es deshalb nicht leiden, wenn nachlässig mit Bildung umgegangen wird.“

Bock traf Experten und wurde auf das Daltonkonzept aufmerksam. Er fuhr, erst allein, dann mit Lehrern, Schülern und Eltern zu verschiedenen Dalton-Schulen in Holland. Von Alsdorf bei Aachen ist es ja nur ein Sprung über die Grenze. „Einmal kamen wir in einen Klassenraum, in dem die Schüler trommelten wie die Wilden.“ Bock sprach den Schulleiter darauf an. „Wissen Sie“, sagte der, „wenn sie jetzt nicht trommeln, dann trommeln sie gleich im Unterricht.“ In einem anderen Raum sah Bock dann was gemeint war: Eine ganze Klasse saß still und konzentriert über ihren Aufgaben. Das war genau das, wonach er gesucht hatte, sagt Wilfried Bock. „Freiheit auf der einen Seite, Verantwortung auf der anderen.“

Bock entwickelte mit einem Team von Lehrern ein erstes Modell des Unterrichts nach dem Daltonplan und fragte Lehrer, Schüler und Eltern sowie die Schulverwaltung, ob sie sich auf das Experiment „Dalton“ einlassen wollten. Dalton gibt ein Ziel vor, den Weg muss eine Schule selbst gehen. Die Kernfrage war: Woher nimmt man die Zeit fürs selbständige Arbeiten? „Erst wollten wir fünf Minuten von jeder Stunde abzwacken“, erinnert sich Bock. Schnell war klar, dass das nicht reicht, um Unterricht zu verändern. Kein schaler Kompromiss, sondern mutige, pragmatische Entscheidungen waren gefragt.

Die regulären Stunden wurden von 45 auf 60 Minuten verlängert, denn weniger und dafür längere Schulstunden bedeuten jeweils weniger Zeitverlust im Vor- und Nachlauf. Das spart wertvolle Minuten. Im zweiten Schritt wurde „Epochenunterricht“ eingeführt: Pro Halbjahr werden weniger Fächer unterrichtet, dafür aber mit erhöhter Stundenzahl. So lernen die Schüler beispielsweise im ersten Halbjahr den Stoff eines ganzen Jahres Physik. Im zweiten Halbjahr ist Physik abgehakt und zum Beispiel Geschichte an der Reihe. „Das senkt die Belastung, weil für weniger Fächer parallel gelernt werden muss“, sagt Wilfried Bock. Dazwischen liegen die Daltonstunden, in denen Schüler allein oder in Gruppen Übungs- oder Hausaufgaben machen. Ein Konzept, das zwischen 2005 und 2008 sukzessive eingeführt wurde: erst in der Ober-, dann in der Unter- und schließlich in der Mittelstufe. Sowohl die Ergebnisse bei Lernstandserhebungen als auch die Anmeldezahlen weisen seither nach oben.

Freitagnachmittag, „Tutorstunde“. In den letzten 60 Minuten vor dem Wochenende finden Schüler und Tutoren, wie die Klassenlehrer heißen, Zeit für Organisatorisches oder individuelle Gespräche. In der 8. Klasse von Ruth Dahmen, 33, gibt es derzeit nicht viel zu planen. Also sind die meisten in Einzel- oder Gruppenarbeiten vertieft, während Ruth Dahmen, die Deutsch, Biologie und Religion unterrichtet, die Daltonplaner durchblättert. Stempel, Unterschriften und Notizen der Kollegen machen ersichtlich, ob jeder das vorgegebene Pensum abgearbeitet hat und wo es Probleme gibt. „Mindestens 3x pro Stunde melden“, steht im Heft einer Schülerin. „Das Mädchen steuert auf eine 5 in Mathe zu“, sagt Ruth Dahmen. „Also steuern wir mit ganz konkreten Leitlinien dagegen.“ Freiheit im Unterricht ist eine Medizin, die ihre heilsame Wirkung entfaltet, wenn die Dosis stimmt.