Porträt

Bernhard Gödde sitzt in einer Schaltzentrale. Wenn er mit seinem Bürostuhl zwischen den drei Computern auf seinem großen Schreibtisch hin und her rutscht und auf den Monitoren schaut, was es Neues gibt und wo er eingreifen muss, wirkt es, als steure er den Zugverkehr der Nation. Er tippt hier ein paar Zahlen ein, schreibt dort eine E-Mail, protokolliert da ein Gespräch. Alle paar Minuten unterbricht ihn das klingelnde Telefon. Oder ein Schüler mit einer dringenden Frage. Denn Bernhard Gödde ist nicht der Chef einer Leitzentrale, sondern Rektor eines Gymnasiums. Knapp 1400 Schüler besuchen das Gymnasium Schloß Neuhaus in Paderborn. Allein alle dringenden Belange der Schüler und der 102 Lehrer zu verwalten, wäre ein Fulltime-Job. Aber Bernhard Gödde will es dabei nicht belassen. „Wir sind eine lernende Organisation, die möglichst allen gerecht werden will“, definiert er seinen Arbeitsplatz.

Zwischen Telefonaten und dem Entwurf eines Elternbriefes kontrolliert der Schulleiter an einem der Computer, ob sein Mathe-Leistungskurs die Hausaufgaben ordnungsgemäß ins schuleigene Intranet gestellt hat. Immer neue Formeln und Kurven öffnen sich auf dem Bildschirm. Bernhard Gödde schaut sich die Lösungen genau an, sein Grinsen wird immer zufriedener. „Das können die alles“, sagt er schließlich.

Dass der Rektor einen hohen Anspruch nicht nur an sich selbst stellt, hat über die Grenzen Paderborns hinaus die Runde gemacht. Überdurchschnittliche Ergebnisse in den Vergleichsarbeiten, ein breites Fremdsprachenangebot und Auszeichnungen für zahlreiche Schüler in Wettbewerben sprechen für sich. Aber Bernhard Gödde gibt sich auch damit nicht zufrieden. Er will alle mitnehmen: „Unsere Begabtenförderung gilt als Aushängeschild, dabei stecken wir vier Mal mehr Energie in die Förderung der schwächeren Schüler.“

Dass aber ein Schüler zum Beispiel seine Versetzung geschafft hat, steht nicht in der Zeitung. Anstrengungen für die Schwachen? Das gilt als nicht prestigeträchtig. Bernhard Gödde geht es indes um das „Gleichgewicht“ der Schule, wie er es nennt. Und um das soziale Miteinander. „Wir erwarten, dass sich die starken Schüler für unsere Unterstützung revanchieren“, sagt er. Sie bieten ihren Mitschülern Nachhilfe an, engagieren sich als Paten für die neuen fünften Klassen oder organisieren die nachmittägliche Hausaufgabenbetreuung „Silentium“.

Alle mitnehmen – dieses Prinzip verfolgt die Schule auch bei Schülerreisen und Auslandsaufenthalten. Die Poster der verschiedenen Klassen an den Wänden des Schulhauses zeigen lachende GSNler in Partnerschulen in Schweden, Finnland, den Niederlanden, Polen, der Türkei, Ungarn, Rumänien, Italien und Spanien. Für so eine große Schule braucht es auch viele Partnerschulen, findet Bernhard Gödde: „Während andere Schulen acht Schüler nach China schicken, schicken wir alle 160 eines Jahrgangs ins Ausland.“

Nur zu einer Fahrt dürfen nicht alle mit: „Bedingung: erstklassiges Benehmen“ steht auf dem Plakat, das die Ferienfahrt ankündigt. Alljährlich fährt der Schulleiter eine Woche lang in den Sommerferien mit einer ausgewählten Schülerschar in Deutschland in den Urlaub – privat. Exzellentes Benehmen? „Man sollte sich schon für die Schule engagieren“, sagt Bernhard Gödde. Trotz der strengen Ausschreibung sind die Ferienfahrten mit dem Rektor ein Renner. Es gibt regelmäßig deutlich mehr Anmeldungen als Plätze. Alljährlich opfert Bernhard Gödde dafür eine Woche seines Urlaubs und wechselt die Rolle. Im Schulalltag würde ihn kaum jemand in kurzer Hose zu Gesicht bekommen. Die Schüler wissen dieses Engagement zu schätzen. „Es macht einfach Spaß, mit ihm wegzufahren“, sagt Sarah aus der elften Klasse, die erst als Teilnehmerin und nun als Leiterin mitfährt. „Die Lehrer geben in ihrer Freizeit Nachhilfe oder organisieren abendliche Treffen mit ihren Kursen“, lobt Ex-Schulsprecher Marius, „in so einer Schule engagiert man sich gerne.“ Schülervertreter Max gefällt außerdem die soziale Kultur an seiner Schule: Patenschaften, Stufenfeiern, Ferienfahrten – „man kann sich hier so gut integrieren.“

Für ein gutes Schulklima ist auch die Auseinandersetzung mit Vorurteilen wichtig. Das GSN gilt als Leistungsschule. „Niemand möchte ein Streber sein“, sagt Gödde, der viel über dieses Thema nachgedacht hat, „aber strebsam sein, gilt als gut.“ Persönlich sei er zu dem Schluss gekommen, dass Leistung eine erweiterte Definition benötige. So gibt es die schuleigenen GSN-Awards auch für soziales Engagement, für den Einsatz für die Schule oder für sportliche Erfolge. Eine Leistungsschule ohne Streber? Oberstufenschüler Patrick fasst das in eigene Worte: „Man muss an dieser Schule keine Angst haben, gute Leistungen zu zeigen.“ Er ist einer der so genannten „Springer“: der 17-Jährige hat eine Klasse übersprungen und geht nun in die 13. Klasse. Zusammen mit seiner Mitschülerin Ann-Kathrin, auch eine „Springerin“, überlegt er, was anders an ihnen ist. „Wir sind vielleicht an manchen Themen ein bisschen interessierter als andere“, sagt Ann-Kathrin schließlich vorsichtig. „Und uns fällt vieles leichter.“ Denn den ganzen Tag zuhause sitzen und lernen, das würde ihr keinen Spaß machen. „Hochbegabt“ wollen sich die beiden nun wirklich nicht nennen. „Wir sind eigentlich ganz normal“, sagt Ann-Kathrin lachend. Aus dem vom GSN gezimmerten Rahmen fällt niemand heraus.

Für die Schwachen hat die Schule eine Art Frühwarnsystem eingerichtet. Fällt die Leistung eines Schülers ab, benachrichtigen die zuständigen Fachlehrer einen Koordinator. „Wir bieten frühzeitig Förderkurse an und nicht erst dann, wenn die Versetzung in Frage steht“, sagt Mittelstufenkoordinator Stefan Balthasar. In einem Ordner hat er alle Förderkurse gesammelt, dazu Namen und Klassen der teilnehmenden Schüler. „Schließlich wollen wir keinen mit Förderkursen überfordern.“

Und oft geht es auch wie nebenbei. „Guck mal, das ist ganz einfach“, sagt Arne in der Pause zu seinem Mitschüler David, der über seinem Matheheft brütet. Mitten im Pausenchaos der 8c studieren die beiden Kurven und Formeln, der Lärm der anderen prallt an ihnen ab, als hätten sie eine Käseglocke über sich gestülpt. Einfach? David schaut zweifelnd.

Arne ist bekannt als Überflieger, zwei Mal hat er bei der Matheolympiade landesweit den dritten Platz belegt. Zu den Wettbewerben hat ihn stets ein Lehrer begleitet, das ist Teil der Begabtenförderung am GSN. Aber auch er hält nicht viel davon, den ganzen Nachmittag am Schreibtisch zu verbringen. Keyboardspielen bereitet schließlich viel mehr Spaß. Dass er hin und wieder freiwillig zu „Zahlenschlachten“ fährt, finden seine Klassenkameraden nicht weiter seltsam. „Viele sind stolz, so jemanden in der Klasse zu haben“, sagt er. Und nebenbei ist es ganz praktisch: Denn trotz seiner Begabung findet Arne die richtigen Worte, um die Matheaufgaben einfach zu erklären. „Und dann setzt du das einfach in die Geradengleichung ein“, endet er pünktlich zum Klingeln am Ende der Pause. David nickt: „Stimmt“, sagt er dann: „Einfach.“

Eva Wolfangel