Porträt

„Ihr könnt euch schon mal da hinten versammeln, da geht es gleich richtig ab!“, ruft Volker Arntz ins Mikrofon. Auf diese Ansage haben seine Zuhörerinnen und Zuhörer nur gewartet – sofort wenden sich die vielen Kinder und Jugendlichen von ihm ab und strömen jubelnd in die andere Richtung zu der großen, schwarzen Maschine, die sicher an den Stahlträgern eines Glasdaches befestigt ist. Einen Knopfdruck später beginnt das Ungetüm, schneeweißen, dichten Schaum zu spucken. Endlich geht die Party los! Innerhalb weniger Minuten ist der graue Steinboden von einem Schaumteppich bedeckt. Wer hier feiert, wird nass. Die meisten Gäste drängen sich direkt unter den Schaumschwall oder schieben sich gegenseitig in die riesige Schaumwolke. Dabei juchzen sie so laut, dass sie fast die Musik übertönen, die der DJ auflegt. „There’s no place I’d rather be“, wummert es aus den Boxen. Es gibt keinen Ort, an dem ich lieber wäre.

Volker Arntz, der Mann am Mikrofon, ist Rektor der Hardtschule im baden-württembergischen Durmersheim in der Nähe von Karlsruhe. Die Partygäste sind seine Schülerinnen und Schüler, die auf dem Schulhof zusammen mit der Schulleitung und den Lernbegleiterinnen und Lernbegleitern „School’s out“ – den letzten Tag vor den Sommerferien – feiern. Feste wie diese gehören zum Alltag der Gemeinschaftsschule.

Doch die Schule kennt andere Zeiten. Angefangen hatte die Einrichtung vor über 30 Jahren als Hauptschule und war lange Zeit dreizügig. Als Volker Arntz 2011 als Schulleiter nach Durmersheim kam, war die Hardtschule eine Werkrealschule und stand kurz vor der Schließung. Die Schülerzahlen sanken dramatisch, es gab nur noch einen Zug pro Jahrgang. Die Schulleitung stand vor einer schwierigen Entscheidung: „Entwickeln oder abwickeln“, erinnert sich Volker Arntz an die Anfänge. Gemeinsam mit dem Kollegium entschied er sich für einen radikalen Schulentwicklungsprozess. Den ersten großen Schritt setzte das Team innerhalb von zwei Jahren um und wandelte die Hardtschule zur Ganztagsschule für alle Schülerinnen und Schüler von der ersten bis zur zehnten Klasse um. Seitdem können die rund 460 Lernenden aus über 70 pädagogischen Zusatzangeboten wählen: Klettern, Cheerleading und Robotik gehören ebenso dazu wie eine Schülerzeitung oder Theater. Das zahlte sich aus. 2013 war die Hardtschule bereits enorm gewachsen: Mehr pädagogisches Personal und vor allem wieder mehr Schülerinnen und Schüler zählten zur Schulgemeinschaft.

Da hatte Volker Arntz längst das nächste Ziel im Blick: Er wünschte sich einen Neustart für die Hardtschule als Gemeinschaftsschule. Gemeinschaftsschulen sind eine noch junge Schulform in Baden-Württemberg, in der alle Schülerinnen und Schüler auf drei verschiedenen Niveaustufen gemeinsam lernen. „Die Gemeinschaftsschule ermöglicht uns eine bessere Durchmischung der Schülerschaft“, erklärt Volker Arntz. Doch für seine Pläne musste die Hardtschule mit Widerständen kämpfen: Der Bürgermeister verwehrte seine Unterstützung, die Realschule demonstrierte gegen das Vorhaben. Statt einzuknicken, glaubte die Schule weiter an die Zukunft als Gemeinschaftsschule. Schulleitung, Kollegium, Eltern und Lernende entwickelten zusammen in Workshops das Konzept „Unsere Vision einer Gemeinschaftsschule“ – und überzeugten damit den Gemeinderat.

Doch nur die Schulform zu ändern, reichte der Hardtschule nicht aus. Das Kollegium notierte auf rund 300 Klebezetteln, was vermeintlich zu Schule gehört, und prüfte, welche Elemente wirklich notwendig sind, damit jedes Kind individuell und erfolgreich lernen kann. Denn dieses Ziel steht im Mittelpunkt aller Bemühungen der Hardtschule. „Wir denken das System Schule vom Kind her“, erklärt Volker Arntz. Das Ergebnis des „Zettel-Checks“: Zwei Drittel der Post-its landeten im Müll und verschwanden damit auch aus dem Schulalltag. „Der Gong? Brauchen wir den zum erfolgreichen Lernen? Nein? Weg damit!“, erklärt Volker Arntz die Vorgehensweise an einem Beispiel. Auch der Zettel „Noten“ wurde deshalb entsorgt. Stattdessen arbeitet die Hardtschule mit Kompetenzbeurteilungen. Erst in der Prüfungsklasse gibt es Noten. Konsequent trennte sich die Hardtschule von tradierten Methoden und bleibt seither offen für alternative Konzepte und Innovationen. Eine davon ist der „Fit-Button“ für Lernende der Sekundarstufe, die vorbildlich arbeiten und lernen. Der Fit-Button ermöglicht ihnen mehr Freiheit wie die freie Auswahl des Arbeitsortes oder das individuelle Gestalten von Pausen.

Als Christoph Traut vor etwas mehr als vier Jahren direkt nach seinem Referendariat an einer Realschule in Rheinland-Pfalz nach Durmersheim kam, war die Hardtschule noch mitten im Umbruch. „Das war mein großes Glück. Ich konnte unverbraucht an der Umgestaltung des Systems mitarbeiten“, erzählt der 31-Jährige. Für ihn war vieles neu. „Das Konzept der Gemeinschaftsschule kannte ich überhaupt nicht“, erinnert er sich. Auch das Coaching war Neuland für ihn. „Hier bekommt jeder Schüler einen Coach an die Seite, der ihn bei seiner persönlichen Entwicklung unterstützt und ihn durch den Alltag und beim Erwachsenwerden begleitet“, erklärt Christoph Traut. Er selbst hat zwei Jahre lang als Coach Kinder betreut. Schweren Herzens hat er diese Aufgabe abgegeben – seitdem konzentriert er sich auf sein „Steckenpferd“. Damit meint er Scrum, eine Methode aus dem Projektmanagement, die engagierte Eltern der Hardtschule vorgeschlagen haben. Lehrkräfte entwickeln in Teams sogenannte digitale Lernlandschaften, die in einer Cloud gespeichert werden und dem gesamten Kollegium zur Verfügung stehen. „Damit wir die Lernlandschaften bauen können, müssen wir uns in den Fachteams richtig organisieren können. Mit Scrum haben wir die passende Organisationsform gefunden“, erklärt Christoph Traut, der die einzelnen Fachteams leitet. Er kann sich nicht vorstellen, an einer Schule zu arbeiten, die weniger agil und innovativ als die Hardtschule ist: „Ich bin längst mit dem Hardtvirus infiziert.“

Seit fünf Jahren ist die Hardtschule in Durmersheim nun eine Gemeinschaftsschule – im Schuljahr 2020/2021 wird ihr erster offizieller Jahrgang die Schule verlassen. Dazu zählt der 16-jährige Felix. Er besucht die Hardtschule seit der fünften Klasse. Eigentlich hatte Felix eine Empfehlung fürs Gymnasium. Doch dann landeten er und seine Eltern zufällig bei einem Informationsabend der Hardtschule. „Ich war das einzige Kind dort“, erinnert sich der Schüler. Das Konzept hat ihn sofort überzeugt. „Frei arbeiten, in meinem Tempo, auf gymnasialem Niveau – das war es, was ich wollte“, sagt Felix. Die Entscheidung für die Gemeinschaftsschule und gegen ein Gymnasium hat der Zehntklässler nie bereut. „Im Gegenteil. Ich schätze zum Beispiel die individuelle Lernzeit sehr. In den Kernfächern Mathematik, Deutsch und Englisch können wir machen, worauf wir Lust haben. Es kann sein, dass sich mein Sitznachbar mit einem ganz anderen Thema beschäftigt als ich“, erklärt er.

Felix würde am liebsten auch sein Abitur an der Hardtschule Durmersheim machen. „Ich bin vom Konzept der Gemeinschaftsschule überzeugt. Das eigenverantwortliche Lernen liegt mir einfach richtig gut“, sagt der 16-Jährige. Doch in Baden-Württemberg dürfen nur weniger als eine Handvoll Gemeinschaftsschulen zum Abitur führen, die Hardtschule zählt nicht zu ihnen. Trotzdem kommt für Felix ein normales Gymnasium nicht infrage. „Deshalb habe ich mich an der Alemannenschule Wutöschingen beworben“, erklärt Felix. Die Gemeinschaftsschule liegt 170 Kilometer weiter südlich an der Schweizer Grenze, ist Preisträger des Deutschen Schulpreises 2019 und bietet seit Kurzem eine gymnasiale Oberstufe an. Felix kennt in Wutöschingen niemanden, für ihn wäre der Umzug ein großes Abenteuer. Doch davor scheut er nicht zurück: „Ich habe gelernt, mich selbst zu organisieren. Ich werde auch diese Herausforderung meistern.“

Geschichten wie diese erfüllen Volker Arntz mit Stolz. „Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass sich die Lehrkräfte und die Kinder bei uns wohlfühlen und am liebsten gar nicht gehen wollen“, sagt er und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „Wir sind ein verdammt cooler Laden.“