Porträt

Gemeinsam lernt es sich besser: In der integrierten Sekundarschule kommen Haupt-, Real- und Gesamtschüler zusammen – und behaupten sich in einem sozial schwierigen Umfeld.

Wie schnell er wächst. Wie er in die Höhe schießt, einzig den Kopf senkt zum Heft vor sich. Ingo* ist binnen eines Handschlags einen halben Meter gewachsen. Gerade ruhte seine Nase noch nahezu auf dem hölzernen Schreibtisch, den Rücken lustlos gekrümmt, als wollte er das Papier mit den Aufgaben verbergen. Da kam Mitschüler Norman vorbeigeschlendert, begrüßte ihn mit Handschlag und beugte sich übers Blatt. „Mann, Kumpel", murmelt er aufmunternd, „die Anfangsbuchstaben schreib mal etwas größer. Das liest sich dann besser". Und Ingo schreibt nun plötzlich, er schwingt den Kugelschreiber überm Papier – als hätte Normans Handschlag ihn unter Strom gesetzt; sitzt er doch nun aufrecht, hier im ersten Stock der Heinz-Brandt-Schule in Berlin-Weißensee.

In dieser Schule hilft man sich. Lehrerin Sabine Wanke geht von Tisch zu Tisch, wendet sich ihren Schülern zu. Und auch die Schüler schauen sich gegenseitig ins Heft, diskutieren mit gedämpften Stimmen die Resultate. Willkommen im Lernbüro: Jede dritte und vierte Stunde ist allen Schülern aus den siebten Klassen gewidmet. Mit Hilfe seines persönlichen Logbuchs plant jeder Schüler selbst, ob er während der Lernbürozeit Deutsch, Mathematik oder Englisch lernt – und was. Im Raum nebenan dreht sich alles um Mathe, und am Ende des Flurs gibt es Englisch; die Schüler setzen sich in die jeweiligen Fachräume. „Wir setzen auf Binnendifferenzierung", sagt Sabine Wanke. Hier lernen Schüler zusammen, die auf einen Hauptschul-, Realschul- oder Abiturabschluss hinsteuern. Das ist neu: Erst seit einem Jahr organisiert sich die Heinz-Brandt-Schule als integrierte Sekundarschule – vorher war sie eine Hauptschule. Nun ist sie Haupt-, aber auch Real- und Gesamtschule, außerdem bereitet sie Schüler auf den Wechsel zum Gymnasium vor. „Wir muten den Schülern seit der Reform mehr zu", sagt Rektorin Miriam Pech. „Sie nehmen ihr Lernen mehr in die eigene Hand. Sie wissen selbst ganz gut, wie weit sie sind." Das Vertrauen zahle sich aus. In einem schwarzen Ordner im Klassenraum stehen die Lösungen aller Aufgaben dieser Deutschstunde. Zwei Schülerinnen überprüfen danach ihre Grammatikleistungen. „Es ist noch nie passiert, dass sich jemand die Lösungen vor der Arbeit angeschaut hat", sagt Sabine Wanke. Wanke und ihre Kollegen bewegen sich als Moderatoren zwischen den Tischen, immer zu zweit in einer Klasse mit maximal 16 Schülern.

67 Prozent ihrer Schüler entlässt die Lehrstätte in Weißensee ins Duale System, das heißt, sie besuchen eine Berufsschule und machen parallel eine Lehre. Nur fünf Prozent wechseln ins Übergangssystem, die so genannte Warteschleife; der Rest geht auf weiterführende Schulen. Eigentlich keine sensationellen Zahlen – wäre das Umfeld nicht strukturschwach. „Viele Schüler kommen aus schwierigen Verhältnissen und wohnen in betreuten Wohngemeinschaften", sagt Miriam Pech, als sie über die Steinfliesen des über 100 Jahre alten Gebäudes geht. In Weißensee, neben den bürgerlichen Stadtteilen Pankow und Prenzlauer Berg gelegen, herrscht mehr Armut. Über 40 Prozent der Schüler sind aus sozialen Gründen lernmittelbefreit. Gleich an der Südseite zur Schule schließt sich eine ehemalige Arbeitersiedlung an. Aus so manchem Fenster hat schon lange niemand mehr geblickt.

In der Heinz-Brandt-Schule machen sich die Kids fit fürs Berufsleben, durch selbstständiges Lernen, viele Praktika – und durch „Service Learning".

In der Klasse 7.1. erzählt Patrick von seinem letzten Arbeitstag im Altenheim. „Ich machte eigentlich alles, vor allem Füttern", sagt er und lehnt sich in seiner dunkelblauen „Picaldi"-Sportjacke zurück. „Zurzeit sind viele Altenpflegerinnen krank." Einen Tag pro Woche verbringen die Siebtklässler im „Service Learning". In Unternehmen und sozialen Einrichtungen sammeln sie Berufserfahrungen. „Die Leute im Heim sind nicht so alt, die haben eher Alkoholprobleme", sagt Patrick. „Oh Mann, so enden will ich nicht." In der Klasse berichten die Schüler von ihren Einsätzen. Mirko etwa teilt bei der „Berliner Tafel" Essen an Obdachlose aus. „Ich bin jetzt auch in der Planung", sagt er, „ich checke die gespendeten Lebensmittel, ob sie noch gut sind". Seitdem falle es ihm schwer, sagt er, seinen eigenen Teller nicht leer zu essen. Durch die Praktika bilden sich die Schüler nicht nur beruflich fort. Sie übernehmen soziale Verantwortung, reifen in ihrer Persönlichkeit. „Wir vernetzen die Schule so stark wie es geht mit der Wirtschaft", sagt Miriam Pech. Sie eilt zu einer Sitzung des Pankower Wirtschaftsrats, in dem sie Mitglied ist.

In ihrem Büro telefoniert Gabriele Herbst mit der nächsten Kaserne. „Nö, die politische Lage können Sie weglassen", sagt die Lehrerin einem Unteroffizier, „die Schüler wollen vor allem die Ausbildungsmöglichkeiten bei der Bundeswehr kennenlernen". Gabriele Herbst organisiert die Praktika für ihre Brandtianer, jeden Januar gibt es eine Praktikumsbörse. „Die Schüler sollen gar nicht anders können als in einen Beruf zu gehen", schmunzelt sie. Jahrelanges Netzwerken zahlt sich nun aus. Die Schüler können aus einer Vielzahl an Berufen wählen.

Sie sollen sich dabei in guter Begleitung ihrer Lehrer wissen. Nicht wenige sind zuvor an der Realschule oder am Gymnasium gescheitert. Sie müssen zum Lernen erstmal wieder motiviert werden. Besonders wichtig dabei sind die 14-tägigen „Planungsgespräche". Dabei legen Schüler und Klassenlehrer unter vier Augen die nächsten Bildungsschritte fest. „Mit den Englisch-Vokabeln komme ich nicht voran", seufzt Nancy, 13, und legt ihr Logbuch auf den Tisch. Es enthält das persönliche Förderkonzept für Nancy. „Du musst Dir Zeit freischaufeln", sagt Bärbel Moritz, 51. „Dein Schulweg mit dem Bus dauert doch eine Stunde, oder? Du kannst auch im Bus lernen, arbeite unterwegs mit Karteikarten, dann wird das schon." Die beiden vereinbaren, dass Nancy ihre Klassenfreundin Renate fragt, ob sie als Lernpatin Nancy beim Englisch büffeln unterstützt.

Das nächste Planungsgespräch von Klassenlehrerin Moritz: Annie, 13, kam erst vor einem Vierteljahr in die Klasse. Jetzt zieht sie Bilanz. „Ich bin akzeptiert, in der Klasse fühle ich mich richtig wohl", sagt sie, knetet dabei ihre Hände. „Probleme können wir untereinander klären." An ihrer früheren Schule sei das nicht mehr möglich gewesen. „Da war ich das Opfer". Sie sei gemobbt, geschlagen und getreten worden, habe sogar Todesdrohungen bekommen.

Es ist Mittag. Draußen blüht eine Linde in hellem Weiß. Vom Flur her dringt Lärm von zum Essen ziehender Schüler, Annie lächelt.„ Und das Lernen ist hier ganz anders. Die Schulstunden vergehen wie im Flug."

* Name geändert

Jan Rübel