Porträt

„Die Schüler haben das Gefühl, die Schule mitzugestalten. Sie empfinden sie als etwas Besonderes.“ (Die Jury)

Dass im Proberaum dicke Luft herrscht, hört man schon draußen auf dem Flur. „Ich bin doch nicht eure Kindergärtnerin!“, schimpft eine Frauenstimme. „Wenn Ihr nicht zuhören könnt, brechen wir ab! Zehn Minuten Pause!“

Ein Dutzend Neuntklässler schleicht mit gesenkten Köpfen aus dem Raum. Einige haben ihre Texte nicht richtig gelernt, einer hat mit dem Nachbarn getuschelt. So was kann die Regisseurin nicht ausstehen. Ulrike Gubisch, Schauspielerin am Hessischen Staatstheater Wiesbaden, verlangt Konzentration, Disziplin und höchste Aufmerksamkeit. Schließlich will sie mit ihnen ein anspruchsvolles Stück einstudieren: „Die Hexenjagd“ von Arthur Miller. In drei Wochen ist Premiere.

Klassenlehrer Arnulf Kunze wirkt nicht besonders mitleidig. „Sie dürfen ruhig die Ernsthaftigkeit spüren,“ sagt er. Das Theaterprojekt der Klasse neun an der Helene-Lange-Schule ist keine nette Abwechslung vom Schulalltag, sondern das wirkliche Leben – und das kann auch mal so hart sein wie Frau Gubisch. Alles darf passieren, nur nicht, dass sich die Truppe vor vollem Saal mit Stottern und lahmen Rezitationen blamiert. Also wird fünf Wochen lang Tag für Tag geprobt, auch an den Samstagen, manchmal bis in den späten Abend, so lange, bis jeder Satz und jede Geste sitzen. Die Schüler nehmen ihrer Regisseurin den Kasernenhofton nicht übel, denn sie spüren ihre Leidenschaft. „Du musst in seinem letzten Satz mitatmen, fall ihm ins Wort!“, feuert Ulrike Gubisch Henriette an. „Solche Projekte in der Pubertät sind nicht nur wichtig für die Identitätsfindung, sondern binden auch die Klassengemeinschaft zusammen,“ sagt Schulleiterin Ingrid Ahlring. Henriette holt tief Luft, ihre Stimme wird laut und hart, gekonnt fährt sie ihrem Mitspieler in die Parade.

Ernsthaftigkeit, Selbstdisziplin und Hingabe an die Sache, das sind zentrale Anliegen der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, die seit den Achtziger Jahren zu den wichtigsten Reformschulen in Deutschland zählt und als „Leuchtturm“ unter den Schulen gilt – ein Anspruch allerdings, den auch eine Versuchsschule wie die Helene-Lange-Schule jeden Tag neu einlösen muss, im Theaterraum wie im Klassenzimmer.

Dabei macht die Schule mit ihren 600 Schülern auf den ersten Blick einen eher kuscheligen Eindruck. Brauner Nadelfilzteppich überall, Pflanzen, selbst gemalte Bilder an den Wänden, Ruheecken. Wohnzimmeratmosphäre auf den Fluren. Schüler der Klasse sechs fläzen sich in Gruppen auf dem Teppich, in ihre Hefte vertieft, lassen sich von keinem stören. Soviel Konzentration und Respekt will erlernt sein. „Die ersten Jahre, wenn wir Rituale wie das Ruhezeichen einführen, sind schweißtreibend, “ räumt Ingrid Ahlring ein, „aber es lohnt sich.“

Als hilfreich empfinden die Lehrer dabei, dass keiner von ihnen ein  Einzelkämpfer ist. Jede Klassenstufe hat ihr eigenes Lehrerzimmer, die sechs bis acht Lehrer arbeiten eng zusammen, jeder kennt die Lernfortschritte, Stärken und Schwächen aller hundert Schüler seines Jahrgangs. Die Türen stehen auch während des Unterrichts fast immer offen. Die Lehrer begleiten ihre Schüler sechs Jahre lang von Klasse fünf bis zehn, danach wechseln die Besten aufs Gymnasium – mehr als die Hälfte der Schüler. Noten gibt es erst ab Klasse sieben. Keiner bleibt in der Gesamtschule sitzen.  Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – hat die Schule einen Leistungsbegriff, der weit über gute Noten hinausgeht. „Unsere Schüler sollen Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess übernehmen,“ sagt Ingrid Ahlring. „Wir erwarten viel - wir wollen, dass sie selbständig werden,“ sagt Englischlehrerin Marianne Strasser, die vor zwanzig Jahren ans „Hela“ kam. Dabei dürfen sie sich Zeit lassen. Sauer wird Marianne Strasser nur,  „wenn einer rum sitzt und nix tut – das tadle ich.“

Casimir aus der 9 c wechselte vom Gymnasium auf die „Hela“, wie die Schüler ihre Schule nennen. „Da musste man vor der Bio-Arbeit dicke Ordner auswendig lernen. Im Gedächtnis haften blieb gar nichts. Hier ging ich mit einem Klassenkameraden in den Wald, um herauszufinden, welche Bäume und Tierarten es gibt.“ Zum Schluss hatte er wieder einen Ordner in der Hand – aber alles darin war selbst erarbeitet. „Da ist man richtig stolz.“ Leistung werde an dieser Schule mehr respektiert als anderswo, sagt Casimir. „Auf meiner alten Schule galt einer, der gute Leistungen bringt, gleich als Streber.“

Ebenso viel Wert legt die Schule aber auf „überfachliche Kompetenzen.“ Tolerant zu sein beispielsweise, Menschen in völlig anderen Lebensumständen verstehen zu lernen.

Tommaso, der später mal Arzt werden will, machte sein Betriebspraktikum als Vierzehnjähriger im Krankenhaus, wo er Patienten wusch. Besonders an die Nieren ging ihm die Antwort einer Patientin. „Ich fragte sie, ob ich ihr helfen könne, sie sagte nur: „Du kannst mir nicht helfen. Sie lag im Sterben.“ Casimir besuchte mit einer alten Dame die Synagoge und irgendwann erzählte sie und ihre Freundinnen ihm von ihrer Zeit im Konzentrationslager von Riga – und was es hieß, unter solchen Bedingungen schwanger zu sein. „Solche Erfahrungen verändern dich,“ sagt er. „Wäre ich an einer anderen Schule, wäre ich heut anders.“  

Zu den wichtigsten Institutionen der Schule zählt der Klassenrat, der jeden Freitag tagt. Wer Schüler ernst nimmt, so die Erkenntnis der Lehrer, gibt ihnen die Möglichkeit, Demokratie und damit die eigene Kompetenz zu erfahren statt „Objekt“ zu sein. Dazu gehört auch die Freiheit, den Lehrer kritisieren zu dürfen. Regel: „Man darf den anderen nicht persönlich angreifen, sondern muss sachlich bleiben,“ fasst Lena zusammen. Wer dagegen verstößt, bekommt die rote Karte gezeigt und fliegt aus dem Stuhlkreis.

In Klasse 8 c steht heute die neue Sitzordnung auf der Tagesordnung des Klassenrats. Jannik eröffnet die Diskussion. Dann werden die Sitznachbarn ausgelost. Plötzlich lauter lange Gesichter. „Ach du Scheiße!“ – „Nein, ich sitz nicht neben dem!“ Tobias will nicht neben Julius. Jule nicht neben ihre Freundin Dominique, „weil wir uns dann gegenseitig ablenken.“ Ein Mädchen in der hinteren Reihe weint – sie sitzt jetzt schon das dritte Mal neben einem Jungen, neben dem sie sich schlecht konzentrieren kann. „Können wir nicht noch mal losen?“, fragt einer. „Das bringt es nicht, einer ist immer unzufrieden,“ lautet der Einwand. „In der Grundschule hat einfach die Klassenlehrerin bestimmt,“ schlägt Jule vor. Doch das will Klassenlehrerin Carmen Bietz nicht. Und die Klasse auch nicht. Die Stunde ist zu Ende. Drei Nächte dürfen ihre Schüler drüber schlafen. Dann lautet die salomonische Entscheidung: Wir losen noch einmal neu, aber an diesem Ergebnis ist nicht mehr zu rütteln. „Ist doch nicht so schlimm,“ sagt Sarah einsichtig, „wir haben uns doch jedes Mal aneinander gewöhnt, oder?“ Schließlich ist hier das wirkliche Leben.

Ingrid Eißele