Porträt

Die Jenaplan-Schule besteht aus fliegenden Klassenzimmern. Überall darf gearbeitet werden – auf dem Flur, im Treppenhaus, in der Bibliothek, im Schülercafé, auf dem Schulhof. Selbst das Lehrerzimmer ist nicht Tabu.

Die Stunde hat längst begonnen, doch im Treppenhaus unterhalten sich noch zwei Schüler. Vincent, 10, und Jonas, 11, lassen sich auch nicht stören, als Schulleiterin Gisela John vorbei kommt. „Die Feinde der Quallen sind die Fische", sagt Jonas mit lauter Stimme. „Von den Quallen gibt es zehntausend Arten auf der Erde", entgegnet Vincent. Gisela John drückt sich behutsam an den Jungs vorbei, die ihr Referat üben.

Die Jenaplan-Schule besteht aus fliegenden Klassenzimmern. Überall darf gearbeitet werden – auf dem Flur, im Treppenhaus, in der Bibliothek, im Schülercafé, auf dem Schulhof. Selbst das Lehrerzimmer ist nicht Tabu. Paula, Judith und Laura aus Klasse zwölf raffen ein paar Blätter mit Rilke-Gedichten zusammen und schlendern über den Schulhof ins Atrium, um bei Keksen und Wasser über eigenen Entwürfen zu grübeln. Jede soll elf Gedichte in verschiedenen Formen schreiben. „Auch du lernst fliegen, sprach die Motte, und flog in die Kerze," witzelt Laura. Judith will ungestört nachdenken und spaziert durch das nahe Wäldchen.
Solche Freiheiten verlangen ein hohes Maß an Selbstständigkeit und Disziplin, das von klein auf geübt wird. „Die Kinder kommen schon mit drei Jahren zu uns in den Kindergarten und wachsen in die Schule hinein", erklärt Gisela John. Die Gesamtschule orientiert sich am Konzept des Reformpädagogen Peter Petersen. Sein „Jenaplan" verlangt eine menschliche Schule, in der alle Kinder gemeinsam und selbstständig lernen statt „Papageienwissen" zu pauken. Doch in der DDR stand die Lehre des Bauernsohns, der 1952 in Jena starb, als „gefährliches Überbleibsel Jenaplan-Schule, Jena Preisträger der Weimarer Republik" auf dem Index. Wie modern diese Prinzipien sind, entdeckten John und ihre Kollegen „in der Zeit der Narrenfreiheit" nach der Wende, als eine Bürgerinitiative aus Lehrern und Eltern eine „ganz andere Schule" schaffen wollte. Eine Schule, die viele eherne Prinzipien stürzte, darunter das Lernen in 45-Minuten-Einheit, Frontalunterricht und Pausenglocken. „Man weiß doch, wann die Stunde zu  Ende ist", sagt Gisela John.

Die wichtigste Änderung ist auf den ersten Blick gar nicht erkennbar. Jakob, Johannes und Felix teilen sich an diesem Morgen einen Doppeltisch im Klassenzimmer der „Wölfe" der 6 B. Das Thema heißt Ägypten. Johannes schreibt die Geschichte des Tutenchamun auf. Felix versetzt sich in die Perspektive der Menschen von damals. „Hallo, ich bin ein Schreiber des Pharao." Jakob malt einen Löwen. Jakob besucht Klasse vier, Felix Klasse fünf, Johannes Klasse sechs. In Jena arbeiten Schüler verschiedener Altersstufen zusammen, immer drei Klassenstufen gemeinsam. „Da lernt man die anderen kennen", sagt Viertklässler Leonhard, der mit Florian und Michael aus der Sechsten Urzeittierchen erforscht. Michael findet, dass die Kleinen oft ganz nützlich sind. „Die wissen manchmal auch was." – „Weil wir besser aufgepasst haben", grinst Leonhard.
Ältere Schüler werden zu Helfern der Jüngeren – und umgekehrt. Constantin ist 19 und sitzt in Klasse acht zwischen Zwölf- bis Vierzehnjährigen. Seit fünf Jahhen hat er keine richtige Schule mehr besucht. In seiner ehemaligen Schule wurden Mitschüler in der Klasse gemobbt. Der sensible Junge reagierte darauf mit einem Waschzwang, der so stark wurde, dass seine Hände bluteten. Als ihn auch noch Angstzustände plagten, musste er in die Kinderpsychiatrie, „total Scheiße" sei diese Zeit gewesen. Seit August besucht er die Jenaer Schule, anfangs noch „voller Ängste, dass ich es nicht schaffe." Doch der Unterricht lenke ihn von seinen Zwangsgedanken ab, die Mitschüler findet er so okay, dass er ihnen demnächst seine Geschichte erzählen will, die er mit einem Wunsch überschrieben hat: „Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich." „Ihr habt doch nur ausgewählte Kinder!", bekommt Gisela John immer wieder zu hören. Doch das sei falsch, „wir sind die Nummer eins in Jena für Kinder, die anderswo gescheitert sind." Der Ehrgeiz der Schule: Jedes Kind zu einem Abschluss zu führen, und sei es noch so schwierig.

Dabei helfe vor allem, dass alle gemeinsam lernen. „Wenn sich Kinder gegenseitig helfen, gibt es keine Besten und Schlechtesten," erklärt die Schulleiterin. Der Lehrer wird zum Regisseur, „er schafft Situationen, in denen das Kind selbstständig arbeiten kann, hat aber auch Zeit, um sofort zu erkennen, welches Kind Hilfe braucht." Diese Art des Unterrichtens, einen Schritt zurückzutreten, „nicht allwissend zu sein", habe sie und ihre Kollegen „unendlich glücklich gemacht." Lehrerin Yvette Tschiedel musste sich erst an die Anordnung der Stühle gewöhnen, im Kreis statt frontal. Sie kam von einem Gymnasium und war verblüfft, wie selbstbewusst die Jenaplan-Schüler auftraten. „Ich fragte sie, nach welchem Lehrbuch arbeitet ihr – da fragten sie, wieso Lehrbuch? Wir machen lieber was anderes.‘ Ich sagte mir, na Donnerwetter, das kann ja heiter werden!" Yvette Tschiedel freundete sich schnell mit dem neuen Stil an. Das gelinge nicht jedem Lehrer, sagt Schulleiterin John. „Wenn einer bloß von der Tafel abschreiben lässt, dann wird das nichts." Aber auch nicht, wenn ein Lehrer seine Schüler unterfordert. Leistung sei wichtig. Jedes Halbjahr bekommen die Schüler Zeugnisse, die ausführlich auf ihre Leistungen eingehen. Noten gibt es erst ab Klasse sieben. „Viele Reformschulen sind nicht an den Auflagen der Ministerien gescheitert", glaubt Gisela John, „sondern an falschen Vorstellungen, was Kinder brauchen."

Ingrid Eißele