Porträt

An der Montessori-Oberschule übernehmen  Kinder Verantwortung für ihre Mitschüler und lernen dabei wie von selbst.

Das Wichtigste sagt sie zuletzt. „Soziale Intelligenz steht bei uns an erster Stelle!“, sagt Ulrike Kegler und fährt mit den Fingern vor und zurück. So, als wolle sie die Worte an der Wand festnageln. Sie dreht sich um, hinter ihr hängt ein rotes Bild an der Wand. Überall in der Schule dominieren bunte Farben. „Hätten Sie gedacht, dass diese Schule von innen so hübsch ist?“ fragt sie.

Nein, auf diesen Gedanken kommt keiner, der das Gebäude nur von außen kennt. In der Tat ähnelt die Montessori-Schule in Potsdam dem Verwaltungstrakt eines abgewickelten Industriekombinats. Grau in Grau duckt sie sich zwischen aufgeplatzten Waschbetonplatten auf der einen und windschiefen Bäumen auf der anderen Seite.
Ulrike Kegler lächelt. „Wir hätten auch zuerst die Fassade renovieren können, aber der Wandel muss von innen kommen.“

In Potsdam hat sie den Wandel geschafft. Nach der Wende kämpfte die Anstalt ums Überleben. Es gab nicht genug Anmeldungen. 1991 begann man mit der Integration behinderter Kinder und übernahm Ideen aus der Montessori-Pädagogik. „Beides war eher dem Überlebenstrieb geschuldet als innerer Überzeugung,“ sagt Ulrike Kegler, die damals als Lehrerin nach Potsdam wechselte und die erste Montessori-Klasse aufbaute.
Doch der damalige Rektor und die Kollegen  begegneten der  Montessori-Pädagogik mit großer Skepsis. Das Prinzip des  offenen Unterrichts widersprach ihren Methoden in wesentlichen Punkten. Es verzichtet zum Beispiel auf jede Form des Frontalunterrichts. So sitzen die Kinder im Kreis, keiner dreht dem anderen den Rücken zu, alle teilen sich die Lernmaterialien,  Rücksicht gehört zu den obersten Geboten, lebenswichtig in einer Schule, in der auch behinderte Kinder am normalen Unterricht teilnehmen.

Als der Schulleiter in den Ruhestand ging, bat das Schulamt Ulrike Kegler, den Posten zu übernehmen. „Die Lehrerrolle hat sich seither völlig verändert,“ sagt ihre Kollegin Monika Peater. Sie sitzt in der Ecke eines Klassenzimmers, auf einem kleinen Stuhl an einem kleinen Tisch. Auf dem Boden liegt ein bunter Teppich. In Regalen, auf Augenhöhe und Griffweite der Kinder stehen Rechenhilfen,  Lesebücher und eine Weltkugel.

Hinter ihr baut sich eine Wand  aus Ordnern auf, jeder Schüler hat einen eigenen, den er gestalten kann, wie er möchte. Irgendwo vor dem Fenster steht der Lehrertisch. Sie sagt: „Man steht nicht mehr gottgleich vor der Klasse, sondern ist eher Moderator.“ Aber: „Natürlich achten wir darauf, dass die Schüler die Lernziele erreichen.“ Offenbar mit Erfolg. Bei den zentralen Abschlussprüfungen und Vergleichsarbeiten des Landes Brandenburg schneiden viele Montessori-Schüler überdurchschnittlich gut ab.

Auf dem Fußboden hocken der achtjährige Raul, Piratentuch um den Kopf, Haare bis zu den Schultern, und der ein Jahr jüngere Carl. Sie versuchen, eine Matheaufgabe zu lösen, minutenlang und immer wieder auf anderen Wegen, von denen manche zum Ziel führen und andere irgendwo versanden. Schließlich geht Raul zum Klassenlehrer und fragt: „Was stimmt den nun, Herr Meyer?“

Als Meyer auf eine Lösung deutet, setzt sich Raul wieder neben Carl auf den Boden und erklärt mit Hilfe von bunten Kugeln, die er über den Teppich rollt, wie er auf die Lösung gekommen ist. Aber Carl hat bald keine Lust mehr, holt sein Schreibheft und beginnt, Buchstaben zu üben. Er kann das besser als Leonora, die neben ihm sitzt und weil er dazu noch ein Jahr älter ist als sie, guckt sie ihm bewundernd über die Schulter und tut es ihm nach. Als der Lehrer den Raum verlässt, blickt keiner der Schüler auf, so vertieft sind alle in ihre Arbeit.

Jede Klasse besteht aus Kindern verschiedener Alterstufen, jeder Schüler gehört also zuerst zu den Jüngeren, dann zu den Älteren und wenn er in die nächste Gruppe kommt, ist er wieder  Anfänger. Auf diese Weise können Ältere den Jüngeren helfen, Jüngere können Ältere fragen. Ziel ist eine Schulform, in der das Lernen wichtig ist, nicht ein auswendig aufgesagtes Ergebnis.

Am Anfang war solch ein Arbeiten schwierig. Um sich an die neue Art des Unterrichts zu gewöhnen, teilten sich zwei Lehrer eine Klasse, „da sind dann Eifersüchteleien ausgebrochen,“ sagt Monika Peater. Das Kollegium habe sich belauert und Einer habe dem Anderen den Erfolg nicht gegönnt. Manche besuchten Weiterbildungskurse, andere boykottierten die Montessori-Pädagogik. „Die Widerstände waren teilweise sehr groß,“ sagt sie  und faltet die Hände wie zum Gebet. „Das ist jetzt komplett weg.“ 

Vor allem die Kinder profitieren davon. Zum Beispiel Franz, der seinen elften Geburtstag feiert. Die Kinder sitzen im Kreis um eine Kerze, die Lebenslicht und Sonne in einem darstellt. Franz hat einen Globus in der Hand. Er läuft elfmal um die Kerze, wobei sich spielerisch erklärt, dass sich die Erde  um die Sonne dreht und wie lange das dauert.

Danach wählt Franz elf Schüler aus, einen für jedes Jahr. Weil er eine Sprachstörung hat, redet er nicht besonders laut, aber alle helfen ihm, Worte in Sätzen zu ordnen. Schließlich umringen sie ihn und heben ihn mit dem Stuhl elfmal über ihre Köpfe. Seine Beine fliegen hoch, er lacht und gluckst. Nachdem sie ihn wieder runtergelassen haben, beklatschen sich gegenseitig.

Die Schule hat 461 Schüler, 461 unterschiedliche Persönlichkeiten, die es zu betreuen gilt. „Das Ende der Fahnenstange,“ sagt Ulrike Kegler. Die Kapazitäten sind zu klein, „außerdem renovieren wir jetzt endlich mal die Fassade.“ Sie grinst. „Alles in allem sind wir auf einem guten Weg.“  Von den Lehrern, die das Kollegium bildeten, als sie in Potsdam anfing, sind gerade mal drei übrig geblieben.

Philipp Kohlhöfer