Porträt

Diese Schule hat kein einziges Klassenzimmer mehr. Ein großer Teil des Unterrichts am Oberstufen-Kolleg spielt sich in drei Sälen im Erdgeschoss ab – den sogenannten „Feldern", jedes so groß wie eine Turnhalle. Auf „Feld II" diskutiert an diesem Morgen der Literaturkurs über das „Männerbild im Islam". Ein paar Meter weiter haben sich die Spanisch-Schüler versammelt: Ein Radioreporter aus Nicaragua berichtet über die Pressefreiheit in seinem Land. Stellwände schotten die Gruppen voneinander ab.

Die Baukasten-Schule ist eine Reformidee aus den Siebzigerjahren. Der Vorteil: Sie lässt sich schnell umgestalten. Kleine Arbeitsgruppen können sich mit wenigen Handgriffen einen Raum schaffen. Nimmt man die Wände weg, haben schnell mal bis zu 400 Menschen Platz – beispielsweise im Februar 2010, als Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller eine Lesung am Kolleg hielt. Der Nachteil: So richtig heimelig fühlt man sich nicht hinter den Korkwänden. Doch Reformen sind am Bielefelder Oberstufen-Kolleg selten fest zementiert. Sie können so schnell wie Stellwände an die tatsächlichen Bedürfnisse angepasst oder in die Rumpelkammer verbannt werden. Bestehen bleibt nur, was von Schülern und Lehrern auf Dauer auch akzeptiert wird. Die Schule hat deshalb das „Feld III" in sechs Bereiche aufgeteilt und mit durchsichtigen Plexiglaswänden getrennt. Das ist zwar auch nicht gemütlicher als Stellwände, aber verringert die Nebengeräusche, sagt Lateinlehrerin Michaele Geweke. Sie übersetzt mit einem Kurs gerade einen Text über den römischen Friedensaltar, als auf der Galerie die ersten Schüler in die Mittagspause schlendern.

Völlig unbeeindruckt arbeiten sich die Elftklässler durch ihren Text. Der offene Raum fordert Rücksichtnahme von den einen und Konzentration von den anderen. „Vielfalt nutzen, Kompetenzen entwickeln, andere Wege zum Abitur gehen, auf Studium und Beruf vorbereiten" – so lautet einer der Leitsprüche des Oberstufen-Kollegs. Übersetzen könnte man ihn so: Die Schule will jungen Menschen dabei helfen, soziale und fachliche Kompetenzen gleichermaßen zu entwickeln. Im Kern geht es also um die Frage, wie viel Freiheit man den Kollegiaten – so heißen die Schüler hier – zumuten kann. Früher stand allen ein Monat pro Halbjahr für selbstständige Recherchen und Projekte zur Verfügung. Die Ergebnisse waren mager. „Damit haben wir die Schüler überfordert", sagt Kollegleiter Hans Kroeger.

Das Oberstufen-Kolleg, mitten auf dem Campus der Uni Bielefeld gelegen, war schon immer experimentierfreudiger als andere Schulen. Seit 36 Jahren versucht es sich an einer Neudefinition von Schule, Rückschläge konnten da nicht ausbleiben. Wie die Sache mit den Schulfächern. „Das sind künstliche Konstrukte", sagt Schulleiter Kroeger. „Sie vermitteln ein falsches Bild, es gibt ja keine in sich geschlossenen Wissenswelten." Früher gab es am Kolleg nur fächerübergreifenden Unterricht, selbst die Leistungskurse waren interdisziplinär angelegt. Daneben wählten die Schüler „Themenschwerpunkte". Sie nannten sich „Künstlerisch-Ästhetische Bildung", „Religion und Philosophie" oder „Naturwissenschaften" und verbanden mehrere Wissensbereiche miteinander. In dieser Form einzigartig in Deutschland.

Dann kam das Zentralabitur und auch die Versuchsschule musste sich den staatlichen Vorgaben anpassen: Themenschwerpunkte gibt es immer noch, die Leistungskurse unterscheiden sich nicht grundsätzlich von denen an anderen Schulen. Doch bei aller Veränderung an der Grundidee hält Schulleiter Hans Kroeger fest: „Wir verstehen unsere Schüler nicht als Objekte, denen man Wissen eintrichtert, sondern als Subjekte, die sich eigenständig Zusammenhänge erschließen." So untersucht beispielsweise der Mathekurs zunächst, wie die Reihenfolge der Google-Suchergebnisse zustande kommt. Dieselben Schüler entwickeln dann im Informatikkurs ein entsprechendes Computerprogramm. Der Biokurs ist zugleich ein Sozialkundekurs, wenn er sich damit beschäftigt, wie Armut und Ernährung zusammenhängen.

Am Oberstufen-Kolleg werden Grenzen neu gesetzt – auch im Umgang miteinander: In den Pausen sitzen Lehrer und Kollegiaten gemeinsam im Schulcafé. Die Lehrer haben kein Lehrerzimmer, sondern Arbeitsnischen, wer eine Frage hat, geht einfach hin. Der Schreibtisch von Biologielehrer Andreas Stockey steht sogar mitten im Flur vor den Fachräumen der Naturwissenschaften. Hier verbringt er die große Pause heute mit Schüler Tobias Romankiewicz vor einem Laptop. Zwölftklässler Romankiewicz besucht den Leistungskurs von Andreas Stockey. In der Projektwoche vor den Sommerferien hat er mit seinem Kurs die Pflanzenwelt auf Hallig Hooge erforscht: Wo wachsen Rotschwingel und Strandweizen? Wie hoch ist jeweils der Salzgehalt im Boden? Ihre Ergebnisse präsentierten sie der ganzen Schule auf dem „Produkttag", der halbjährlichen Kompetenz-Messe des Kollegs. Jetzt – Wochen später – vergleicht Tobias die Messwerte mit denen der Vorjahre, er macht das freiwillig.

Tobias ist schon 22 Jahre alt, seine sanfte Art will nicht so recht zum Heavy-Metal-Look mit langen Haaren und schwarzen Klamotten passen. Er hat eine „schwierige Schullaufbahn" hinter sich, wie er selbst sagt. Er musste drei Mal wiederholen – erst an der Haupt-, dann an der Realschule. Schließlich – mit 19 – schaffte er es doch auf das Oberstufen-Kolleg. Im kommenden Jahr macht er Abitur. Er will Biologie studieren. Am Oberstufen-Kolleg kann er Leistung bringen, weil die Lehrer auch ihn individuell fördern. Der Unterricht ist „kompetenzorientiert". Hinter dem sperrigen Begriff verbirgt sich ein einfaches Prinzip: Jeder löst im Unterricht die Aufgaben, die ihn zwar fordern, aber nicht überfordern. In „Brückenkursen" gleichen die Schwächeren ihre Lücken aus und in „Lernbüros" bekommen sie Hilfe von Mitschülern.

Auf der anderen Seite steht die Förderung von Talenten durch Mentoren: Biologielehrer Andreas Stockey hilft Tobias, seine Begabung in den Naturwissenschaften zu entwickeln – wie bei der zusätzlichen Arbeit am Hooge-Projekt. Zugleich zeigt er ihm Wege in Studium und Berufsleben auf. „Wenn Schüler scheitern, liegt das meist nicht an mangelndem Interesse", sagt Schulleiter Kroeger. Gründe hierfür sind Frontalunterricht und mangelnde Förderung. Am Kolleg stehen Eigenverantwortung und Gruppenarbeit im Vordergrund. Die Schüler stellen ihren Stundenplan selbst zusammen. Lehrer sehen sich in der Rolle von Helfern und Beratern. Selbst die Noten sollen möglichst partnerschaftlich vergeben werden. Auf einem Formular notiert Tobias eine Selbsteinschätzung. Der Lehrer antwortet mit seiner Bewertung. So bleibt Notenvergabe zwar Notenvergabe – aber es entsteht ein Dialog über die Leistung. „Wir wollen ein Arrangement zum selbstständigen Arbeiten schaffen", sagt Schulleiter Kroeger.

Wer mit dieser Verantwortung umgehen kann, meistert später erfolgreich das Studium, das melden Unis, die ehemalige Kollegiaten aufgenommen haben. Allerdings: Ein knappes Drittel der Schüler verlässt die Schule vor dem Abi – zu viele, wie Kroeger zugibt. Manche Schüler sind schon 25, wenn sie vom Kolleg aufgenommen werden, um ihr Abitur zu machen. Viele hatten nach der Realschule eine Ausbildung absolviert. Oder einfach nur gejobbt. Die Hälfte hat keine Empfehlung fürs Gymnasium. Bei der Aufnahme zählen neben Deutsch- und Mathetests individuelle Gespräche die ausschlaggebend für ihre Aufnahme sind. „Dabei geht es vor allem um die persönliche Motivation des Bewerbers", sagt Kroeger. Doch der Schulleiter warnt: „Wer glaubt, bei uns könne man leicht sein Abi nachholen, täuscht sich." Zwar zwingt einen niemand zur Mitarbeit, doch das heißt nicht, dass man nichts leisten muss. Ganz im Gegenteil: Früher haben die Schüler sogar die Inhalte eines Kurses eigenständig geplant und den Stoff selbst ausgewählt. Mittlerweile gibt es wieder mehr Vorgaben durch die Lehrer – auch eine Reaktion auf die hohe Abbrecherquote. „Das ist immer eine Gratwanderung zwischen Freiheit und Lenkung", sagt Kroeger.

Mathias Becker