Porträt

„Die Schule arbeitet ganzheitlich und projektorientiert. Anderen Schulen ist sie in ihrer Entwicklung zehn Jahre voraus.“ (Die Jury)

Wer es mal zu etwas bringen soll, der ging in Hildesheim früher auf ein klassisches Gymnasium. Zum Beispiel auf das Josephinum, eine katholische Schule, gleich neben dem tausend Jahre alten Marien-Dom erbaut und fast so alt. Wer heute in Hildesheim etwas werden will, der geht auf die Robert-Bosch-Gesamtschule (RBG). Die liegt hinterm Bahnhof im Norden der Stadt neben dem Zentralfriedhof.

Die Schule im nüchternen Betonbau aus den 70er Jahren kann sich vor Anmeldungen kaum retten, im Sommer musste Schulleiter Wilfried Kretschmer von 380 Bewerbern über die Hälfte ablehnen. Noch vor 15 Jahren kämpfte die Schule um jeden neuen Schüler. Anfang der 90er Jahre war sie ganz unten. Damals hatte die Gesamtschule einen miesen Ruf und galt als Schule für Schwache. Jetzt bekommt sie den Deutschen Schulpreis.

Die Schule wurde nach folgenden Kriterien beurteilt: Leistung, Umgang mit Vielfalt, Unterrichtsqualität, Verantwortung, Schulleben und Schulentwicklung. Bei allen sechs hat die Schule die Jury der Robert Bosch Stiftung überzeugt. Der Sprecher der elf Experten, Peter Fauser, Professor an der Universität Jena, hat die Schule im Sommer zwei Tage inspiziert. Bei seinem Urteil über die Hildesheimer Gesamtschule gerät der Erziehungswissenschaftler regelrecht ins Schwärmen: „So guten Unterricht habe ich selten gesehen“, sagt er. „Die Schule arbeitet ganzheitlich und projektorientiert. Anderen Schulen ist sie in ihrer Entwicklung zehn Jahre voraus. Sie wird hochprofessionell gemanagt.“ Sein Kollege aus der Jury, der niederländische Schulinspektor Johan van Bruggen, hat schon viele gute Schulen gesehen. Er sagt über die Robert Bosch Gesamtschule: „Gute Schulen haben den Willen zu lernen. Die Lehrer in Hildesheim sind nie zufrieden, sie suchen immer nach Möglichkeiten, noch besser zu werden.“

Für Nicolas ist das abstrakte Theorie. Für den Elfjährigen zählt etwas anderes: „Hier kümmert sich einer um den anderen“, sagt er. Nico geht erst seit ein paar Wochen in die sechste Klasse der Robert-Bosch-Gesamtschule und gehört bereits dazu. An seiner alten Schule hatte er Probleme, Freunde zu finden.

Zusammen mit vier Mädchen sitzt er um einen Tisch. Sie sind allein in dem großen Klassenraum. Die fünf Sechstklässler bekleben Holzrahmen mit buntem Papier. „Wir basteln für den Weihnachtsbasar“, erklärt Nico, während er vorsichtig dünnes Seidenpapier mit Klebstoff bestreicht. Lynn bestreut ihren Rahmen derweil mit Glitzer. Die Mutter einer Schülerin leitet diese so genannte „Gruppenstunde“. So wie 149 andere ehrenamtliche Eltern, in den fünften und sechsten Klassen. „Mir macht das Spaß“, sagt Claudia Skibbe, die Mutter von Mayra-Lee, einer Klassenkameradin von Nico, die ebenfalls Rahmen beklebt. „Und wir Eltern bekommen einen ganz anderen Einblick in den Schulalltag unserer Kinder.“ Auf der Suche nach einer Schule für ihre beiden Töchter hat sie sich bewusst für die Gesamtschule entschieden – gegen ein Gymnasium. „Für mich zählt soziales Engagement, ich will keine Einzelkämpfer“, sagt Claudia Skibbe.

Während Nico und die Mädchen basteln, kochen ihre 20 Klassenkameraden mit Eltern Marmelade oder spielen Inline-Hockey in der Turnhalle. Fünf Mädchen proben ein Theaterstück im Schwarzlichtraum. „Das ist besser, als den ganzen Tag rum zu sitzen wie an meiner alten Schule“, erzählt Nico, während er das klebrige Seidenpapier vorsichtig um den Rahmen wickelt. „Diese Gruppenstunden sind mindestens so wichtig wie Deutsch oder Mathe“, erklärt Nicos Klassenlehrerin Rosemarie Steinkühler. „Wer in einer kleinen Gruppe funktioniert, kommt auch in der großen klar.“

1318 Schüler gehen auf die Robert-Bosch-Gesamtschule in Hildesheim, sie werden von 103 Lehrer unterricht. Außer dem Namen, den die Schule in den 70er Jahren erhielt, gibt es keine Verbindungen zu der Stiftung. „In den letzten Jahren haben wir die Person Robert Bosch wieder für uns entdeckt“, sagt Schulleiter Wilfried Kretschmer. „Er passt zu uns mit seinem Verständnis von Bildung und Völkerverständigung.“ Seit 28 Jahren gehört die Gesamtschule zum Netzwerk der UNESCO-Projektschulen.

Die RBG ist eine riesige Schule, aber keine Lernfabrik. Trotz der hunderte von Schülern, die täglich durch die Pausenhalle strömen, gibt es kein Zeichen von Vandalismus. Selbst eine Stehlampe aus zartem Reispapier neben einem Podest bleibt heil. Überall stehen Grünpflanzen, kein Schüler rupft an ihren Blättern. An den Wänden auf den Gängen hängen Plakate oder Bilder von Schülern, Schmierereien gibt es nicht. In der Pausenhalle stehen Terrarien mit Schildkröten und ein großer Vogelkäfig, die von Schülern gepflegt werden. Auf dem großen Schulgelände finden sie überall Nischen, kleine Gärten, den Steg am Schwimmteich oder das UNESCO-Café, ein Brunnen unter einem Baldachin, gestaltet von Schülern.

Haupt- und Realschüler und Gymnasiasten lernen gemeinsam, ab der siebten Klasse wird der Unterricht schrittweise in A und B Kurse differenziert. Bei der Zusammensetzung der Klassen orientiert sich Schulleiter Wilfried Kretschmer an der Empfehlung der Grundschule für die weiterführende Schule. Etwa 55 Prozent haben eine Empfehlung für die Haupt- und Realschule. Jeder Dritte schafft hier einen höheren Abschluss, als von der Grundschule prognostiziert. Keiner bleibt sitzen, und kaum einer geht ohne Schulabschluss. Jury-Sprecher Peter Fauser sagt: „Das ist eine enorme Leistung. International wird kritisiert, dass die deutschen Schulen viel zu selektiv sind. Die übliche Formel, die Herkunft eines Schülers entscheidet über seine Zukunft, gilt an der Hildesheimer Gesamtschule nicht.“

Das gelingt, weil die Schüler Verantwortung für ihr Lernen übernehmen. So wie in der Deutschstunde der 6.3. bei Christoph Dommnich. Er ist der zweite Klassenlehrer von Nico. Die Klasse wiederholt die Regeln einer Erzählung. Zunächst soll jeder Schüler die allein auflisten, dann mit seinem Nachbar diskutieren und in der Gruppe ein Plakat dazu entwerfen. Anschließend muss jede Gruppe ihr Plakat vor der Klasse präsentieren. Nico schreibt auf: „1. Man soll in der Vergangenheit schreiben, 2. spannende Wörter benutzen, 3. Höhepunkte spannend machen und 4. wörtliche Rede.“ – „Es ist wichtig, dass die Kinder, die Regeln selbst aufschreiben“, erklärt Lehrer Dommnich, „Ich kann ihnen die fünfmal erzählen, viele behalten sie trotzdem nicht.“ Nico malt inzwischen mit seiner Gruppe auf einem gelben Plakat eine Spannungskurve, gemeinsam listen sie die Regeln auf.

Jetzt präsentieren die Schüler ihre Arbeit, Nicos Gruppe ist als erste dran: Christian, Nico, Isabelle, Semra und Shannon gehen nach vorn und kleben ihr Plakat an die Tafel. Semra und Shannon erklären, was sie aufgeschrieben haben. Ihre Mitschüler melden sich, um die Präsentation zu kommentieren. Lehrer Dommnich sagt: „Denkt dran: Erst etwas Positives sagen, dann: ,Man könnte eventuell noch verbessern...’.“ Michele sagt: „Ich fand nicht so gut, dass ihr gesagt habt: ,Man muss, muss’.“ – „Stopp!“, unterbricht sie der Lehrer. „Gut finde ich, dass ihr die Spannungskurve aufgemalt habt“, verbessert sich Michelle. Das findet auch Finn, aber er kritisiert, dass nicht alle aus der Gruppe vorgetragen haben.

Ein paar Mädchen kichern, die Klasse wird unruhig, die Konzentration lässt nach. Kein Wunder, es ist bereits 14.30 Uhr. „Alle stehen jetzt mal auf“, sagt Lehrer Dommnich. „Wollt ihr Laurenzia oder eine Entspannungsübung?“ Die Schüler rufen: „Laurenzia!“ Dann singen sie laut: „Laurenzia, liebe Laurenzia mein, wann wollen wir wieder beisammen sein? Am Mooontag!“, und gehen dabei zum Takt in die Knie. Nach ein paar Minuten sind alle völlig aus der Puste – aber die Spannung ist raus, es ist wieder ruhig. Der Unterricht kann weitergehen. „Nach dem Mittag kann ich nicht eineinhalb Stunden durcharbeiten“, sagt Christoph Dommnich. „Das ist für alle die Hölle – für die Schüler und für mich auch.“

An der RBG dauert der Unterricht bis 15.30 Uhr, für die Oberstufe bis 16.15 Uhr. Kein Klingeln unterbricht das Lernen; die Schulglocke wurde abgeschafft, „weil wir keine Fabrik sein wollen“, sagt Schulleiter Wilfried Kretschmer. Der Unterricht wird überwiegend in Doppelstunden organisiert, dazwischen gibt es 20 bis 25 Minuten Pause, mittags haben die Schüler 45 Minuten Zeit zum Essen in der Schulkantine mit bunten Stühlen im Keller der Schule. Am Nachmittag stehen nicht bloß zusätzliche Freizeitangebote auf dem Stundenplan, sondern Unterricht. Erholungszeiten, Sport, Musik und Theater sind über den Tag verteilt. Nico ist in der Bläserklasse, alle 25 Schüler der 6.3. lernen ein Blasinstrument. Nico spielt Klarinette, Christian Waldhorn und Semra lernt Tuba. Die Instrumente bekommen sie von der Schule gestellt. „Hier finde ich es eindeutig besser als in meinem alten Gymnasium“, sagt Nico. „Wenn um halb Vier die Schule vorbei ist, habe ich keine Hausaufgaben mehr.“

Einzelarbeit, Gruppenarbeit, Präsentieren ziehen sich wie ein roter Faden durch den Unterricht von der fünften Klasse bis zum Abitur. An „Methodentagen“ lernen die Schüler, wie man Referate hält, die wesentlichen Thesen in Texten unterstreicht oder recherchiert. Die Techniken wenden sie jeden Tag an. Während der Arbeits- und Übungsstunden arbeitet jeder Schüler für sich: Nico malt ein Plakat über Ungarn für das Fach Gesellschaft, sein Tischnachbar Christian schreibt an seiner Erzählung für Deutsch weiter und Lynn macht ihre Englischaufgabe zu Ende. Wer mit seiner Aufgabe fertig ist, geht zu einem Zettel an der Wand und zeichnet auf dem Wochenplan seine Aufgabe ab.

„Wir fanden es toll, den Wochenplan für alle sichtbar abzuhaken“, erzählt Franca. „Das war ein Wettbewerb, wer ist der Schnellste?“ Die 16-Jährige geht in die zehnte Klasse und benutzt wie alle Großen für ihre Arbeitsplanung jetzt einen Timer. Während der Arbeitsstunde in der 10.1. üben die meisten für eine Chemie-Arbeit. Franca ist im A-Kurs, Sharon, 16, geht in den B-Kurs und hat die Reaktionsgleichung noch nicht kapiert. Franca erklärt es ihr geduldig. „Es ist leichter, einen Schüler zu fragen“, sagt Sharon, „deshalb gehe ich zu Franca, sie ist der Crack bei uns.“– „Und ich muss es verstanden haben, um es erklären zu können. Dafür kann ich Sharon in anderen Fächern fragen. Das ist ein Geben und Nehmen“, sagt Franca. Die Starken helfen den Schwachen – noch ein Grund für den Erfolg der Schule.

Nach einer Erfolgsgeschichte sah es lange Zeit nicht aus. Gegründet wurde die RBG 1971. Gegen die Gymnasien in Hildesheim konnte sich die Schule nicht durchsetzen. Die Schüler blieben weg, vor allem die guten. Vor über fünf Jahren machte sich die Schule auf den Weg. „Wir haben uns buchstäblich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen“, sagt Schulleiter Wilfried Kretschmer, 55.  Er kam 1979 als Referendar an die Schule und wollte ursprünglich nach fünf Jahren wieder weg, die Süßwasser-Forschung lockte den Lehrer für Biologie und Politik. Doch aus fünf wurden 28 Jahre, erst war er Oberstufenkoordinator, seit 2002 ist er Schulleiter.

Auslöser für systematische Reformen war die Wahl zur Expo-Schule im Jahr 2000. Ausgerechnet die Gesamtschule wurde ausgewählt und nicht eines der Gymnasien, sich auf der Weltausstellung in Hannover zu präsentieren. „Das war das erste Mal, dass wir öffentliche Anerkennung bekamen“, sagt Kretschmer. Danach suchten sich die Lehrer einen professionellen Unternehmensberater und zogen Bilanz: Wo liegen unsere Stärken? Wo unsere Schwächen? „Wir stellten fest: Wir machen tolle Projekte, aber konventionellen Unterricht“, erzählt der Schulleiter. Es gab viele Ideen, die kaum aufeinander abgestimmt waren. 25 Lehrer, die Schulleitung und das „mittlere Management“, so Kretschmer, entwarfen einen Masterplan. Die Ziele: Entwicklung eines Leitbilds, Schaffung transparenter Gremien, Erarbeitung eines modernen Lehrplans und eines pädagogischen Konsens, Verbesserung des Unterrichts.

Sie entwickelten „Jahresarbeitspläne“. Die bunten graphischen Übersichten hängen überall in der Schule. Vor den Sommerferien plant ein Lehrerteam das gesamte Schuljahr, Stufe für Stufe, Fach für Fach. So entsteht nicht nur eine Übersicht, sondern die Fachlehrer stimmen ihren Unterricht aufeinander ab und legen gemeinsam Lernziele fest. In der sechsten Klasse findet das Thema Afrika zum Beispiel parallel in drei Fächern statt: Kunst, Gesellschaft und Religion, Werte und Normen. Geschichtslehrer Christian Augustin, sagt: „Wir wollen weg von: Ich und mein Fach, hin zu: Wir und unsere Schule.“

Die Lehrer arbeiten in „Jahrgangsteams“ und Fachbereichen zusammen. Ständig überprüfen sie ihre Arbeit: Sie befragen ihre Schüler und hospitieren gegenseitig im Unterricht. An anderen Schulen wäre das undenkbar. Doch hier hat keiner Angst vor Offenheit – im Gegenteil, sie motiviert. Der Krankenstand unter den Lehrern ist mit zwei Prozent auffallend niedrig.

Projektwochen, die den gesamten Unterricht lahm legen, wie an anderen Schulen, gibt es nicht. Fächerübergreifendes Lernen findet so oft wie möglich und in jedem Fach statt. Das geht so weit, dass Schüler in der Oberstufe aus dem Biologie- und Geschichtskurs gemeinsam Facharbeiten zum Thema Natur schreiben. Auch in Kunst und Deutsch wird zu dem Thema gearbeitet.

Gelernt wird nicht nur in der Schule. So fährt der achte Jahrgang jedes Jahr zur Sommerschule auf die dänische Insel Aarö. Die Schüler erforschen die Natur und die Lebensbedingungen auf der Insel und halten Referate. Das Camp ist ein fester Bestandteil in der Schullaufbahn, es ist ein Initiationsritus für die Schüler. „Die Woche schweißt richtig zusammen“, schwärmt Franca aus der Zehnten.

Kann jede Schule so arbeiten wie die Robert-Bosch-Gesamtschule? „Natürlich!“, sagt Schulleiter Kretschmer. „Das ist eine Frage des Wollens, nicht der Ressourcen.“

Catrin Boldebuck