Porträt

„I got the Eye of the Tiger“, der Hit von Katy Perry schallt durch die Turnhalle. Fast hundert Mädchen stehen auf der Bühne. Sie tragen selbstgebastelte Tiermasken: Löwen, Elefanten, Pandabären, Vögel, Tiger – alles ist vertreten. „’Cause I am a Champion. And You’re gonna hear me roar“, singen sie laut und selbstbewusst. Es sind Schülerinnen der Anne-Frank-Realschule, einer Schule nur für Mädchen in München-Pasing. „Wir begrüßen Sie zu dem ersten Präsentationsabend der fünften Klassen, mit dem wir Ihnen zeigen wollen, wie Ihre Kinder die Biologie entdecken“, empfängt Schulleiterin Eva Espermüller-Jug die rund 200 Eltern, Großeltern und Geschwister. Drei Tage lang haben die Mädchen der 5a, 5b und 5c im Münchener Tierpark Hellabrunn Säugetiere und Vögel beobachtet und deren Gehege skizziert. Nun präsentieren sie stolz die Ergebnisse ihrer Forschungen.

Mädchen für Mathematik, Naturwissenschaften und Technik zu begeistern, das ist das Ziel der Anne-Frank-Realschule. Rektorin Eva Espermüller-Jug sagt: „Wir wollen Mut machen, die Mädchen sollen bei uns ihre Kompetenzen entdecken.“ Dazu binden die Lehrer auch die Mütter ein: „Wir erklären ihnen, dass sie ihre Töchter nicht darin bestärken sollten, sie könnten kein Mathe – weil sie selbst Schwierigkeiten mit dem Fach hatten“, erklärt die Rektorin, selbst Mathelehrerin. Immer wieder bekommen die Mädchen die Chance, sich auch außerhalb der Klassenzimmer auszuprobieren: zum Beispiel beim Technik-Parcours in der fünften Klasse, während der Chemie- und Physik-Tage an der Ludwig-Maximilians-Universität oder beim Projekt „Lernen durch Lehren“, bei dem Neuntklässlerinnen drei Tage lang Versuche mit Kindergarten- und Grundschulkindern machen.

Die Naturwissenschaften sind an der Anne-Frank-Schule keine Hass-Fächer, sondern offenbar extrem attraktiv: Die Hälfte eines Jahrgangs, rund 50 Mädchen, entscheidet sich nach der sechsten Klasse für Naturwissenschaften als Wahlpflichtfach. Als Eva Espermüller-Jug vor 14 Jahren die Schulleitung übernahm, waren es nur sieben bis acht. Und 28 Prozent der Schülerinnen beginnen nach der Mittleren Reife eine technische Ausbildung. „Damit erhöhen wir den Schnitt für ganz Bayern drastisch“, sagt Physik-Lehrerin Claudia Herr stolz. Wenn sie Projekte anbietet, achtet sie immer darauf, dass auch Frauen dabei sind – als Vorbilder für ihre Schülerinnen. In der neunten Klasse müssen alle Mädchen ein Praktikum in einem technischen Beruf machen, egal für welches Wahlpflichtfach sie sich entschieden haben. „Nur wer es probiert, kann sagen: Ich mag oder kann das nicht“, erklärt Schulleiterin Espermüller-Jug. „Ich war in der Fahrzeuglackiererei, zusammen mit den Azubis. Das war voll cool“, erzählt Yvonne Kupfer aus der 9b. Sie hat Französisch als Wahlpflichtfach. Die 15-Jährige geht erst seit gut einem Jahr auf die Anne-Frank-Realschule, vorher war sie auf dem Gymnasium. Als ihre Mutter schwer krank wurde und sie nicht mehr unterstützen konnte, kam Yvonne nicht mehr mit. Sie rutschte in Mathe und Englisch ab, ihre Versetzung war gefährdet.

„Ich bin immer mit Druck im Magen in die Schule, wie eine Maschine. Wenn ich nachmittags nach Hause kam, konnte ich mich nur noch hinlegen. Ich dachte: Ich bin zu dumm“, erzählt sie. Ihre Mutter Iris von Zastrow machte sich große Sorgen: „Yvonne hatte permanent Bauchschmerzen, sie war in einem erbärmlichen Zustand. Ich werde immer noch ganz sauer, wenn ich darüber nachdenke.“

Iris von Zastrow setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um für ihre Tochter einen Platz an der Anne-Frank-Realschule zu bekommen. „Ich hatte gleich einen tollen Eindruck, die Mädchen lernen hier für sich, nicht für die Schule.“ Nicht nur Yvonnes Noten sind besser geworden, viel wichtiger für ihre Mutter ist: „In den letzten 14 Monaten hat sich meine Tochter vom grauen Mäuschen zu einem normalen, gesunden und robusten Teenager gewandelt.“ Yvonne ist Klassensprecherin der 9b und hat neue Freundinnen gefunden. Solche Geschichten hört man an der Anne-Frank-Realschule immer wieder.

„Eigentlich wollte ich nicht auf eine Mädchenschule“, erzählt Yvonne. Sie trägt einen Strickpulli mit der Aufschrift „Hollywood“ aus Pailletten. „Ich dachte, da gibt es nur Gezicke. Aber es ist ganz anders. Hier herrscht nicht so ein Konkurrenzkampf. An meiner alten, gemischten Schule waren die Mädchen sehr aufgetakelt, es wurde viel gelästert. Am Anfang fiel mir richtig auf, dass die blöden Sprüche der Jungs fehlen. Die schmeißen einem Schnipsel in den Ausschnitt und machen einen runter, wenn man was Falsches sagt.“

Etwa hundert Mädchenschulen gibt es heute in Deutschland, vier davon in München. Gegründet wurden sie in einer Zeit, als nur Jungen das Recht auf gute Bildung hatten. Sogenannte höhere Töchterschulen sollten diese auch Mädchen ermöglichen. So wichtig Mädchenschulen früher waren, heute scheinen sie überholt. Dass Jungen im Unterricht bevorzugt werden, ist heute kaum noch denkbar – schließlich gelten sie als die neuen Bildungsverlierer. Mädchen brauchen keinen Schonraum mehr. Oder etwa doch? „Die Jungs fehlen uns für soziale Kontakte, aber nicht im Unterricht“, sagt die 15-jährige Clara. „Wir können uns besser konzentrieren, weil hier keine Jungs sind, die lästern: ‚Wie dumm bist du eigentlich!‘ Das hat mich früher sehr verunsichert.“ Sophia, 15, sagt: „Hier gibt es auch Konflikte, die Mädchen reden ein bisschen viel und manche lachen auch mal, wenn eine etwas falsch macht.“ Mit ihren hellblond gefärbten, kurzen Haaren fällt die Schulsprecherin unter all den langhaarigen Mädchen auf. „Aber hier muss man sich nichts gefallen, muss sich nicht schminken. Wir sind freier.“

„Es gibt sehr viel Evidenz, dass Mädchen sich im naturwissenschaftlichen Unterricht eher zurückziehen und den Jungen das Feld überlassen: Macht ihr mal“, sagt Bettina Hannover, Psychologin und Professorin für Schul- und Unterrichtsforschung. „Dafür dominieren sie in den Sprachen. In getrennten Gruppen greifen Geschlechterstereotype weniger.“ Als Mitglied der Schulpreis-Jury hat sie die Anne-Frank-Realschule zwei Tage lang inspiziert. Lange hat die Jury diskutiert, ob eine reine Mädchenschule den Hauptpreis bekommen kann. Selbstverständlich sei die Arbeit mit Mädchen einfacher, weil die meisten disziplinierter seien als Jungs, meinte ein Mitglied. Was da wohl für Rollenbilder vermittelt würden, wollte ein anderes wissen. Am Ende entschieden sich die Experten ohne Gegenstimme für die Anne-Frank-Realschule. Sie stellen ihr in allen sechs Kriterien ein hervorragendes Zeugnis aus und sind sich einig: Gemischte Schulen können sich einiges von ihr abgucken. Nicht nur guten Unterricht, sondern die gesamte Lernstruktur der Schule, die aus kleinen, stabilen Gruppen besteht. Je nach Wahlpflichtfach sind die Mädchen auf drei Lernhäuser aufgeteilt, die nach Frauenpersönlichkeiten benannt wurden: Die Naturwissenschaftlerinnen haben ihre Klassenzimmer im Lernhaus „Rosalind Franklin“. „Science and everyday life cannot and should not be separated“ steht als Zitat der Wissenschaftlerin, die einen wesentlichen Beitrag zur Entschlüsselung der DNA-Struktur geleistet hat auf der lindgrünen Wand im zweiten Stock. Die Französisch-Schülerinnen gehen in das rote Lernhaus „Niki de Saint Phalle“. Und die Mädchen, die Sozialwesen als Wahlpflichtfach wählen, ins blaue „Rosa Parks“-Lernhaus.

Zweimal in der Woche arbeiten die Mädchen in altersgemischten Gruppen an Aufgaben aus den Fächern Englisch, Deutsch und Mathematik. Dazu buchen sie sich selbständig über das Internet für einen Raum und eine Fachlehrerin ein. In den sogenannten Lernbüros lernen sie dann völlig frei in ihrem Tempo. Bedingung: Nicht mehr als drei Schülerinnen aus einer Stufe sitzen gleichzeitig in einem Lernbüro.

Dienstagmorgen, erste Stunde: Im Lernbüro Englisch sitzen 13 Schülerinnen. Einige haben die Laptops vor sich aufgeklappt, manche haben Kopfhörer in den Ohren. Eine Ältere korrigiert am Laptop Sätze mit If-Clauses. Eine andere übt Vokabeln. Es herrscht eine ruhige, konzentrierte Atmosphäre. Ab und zu steht ein Mädchen auf, geht zu den fünf Gestellen mit roten, grünen, gelben und blauen Hängeregistern, die an der Rückwand auf Tischen stehen, und sucht sich das passende Arbeitsmaterial heraus. Am Ende des Halbjahres müssen die Mädchen zwölf Bausteine geschafft haben. Ihre Fortschritte notieren sie in ihrem Logbuch. Ein älterer Herr mit weißem Haar, Strickjacke und Krawatte geht von Pult zu Pult und schaut den Mädchen über die Schulter. Peter Vollmar ist mit seinen 75 Jahren längst pensioniert und könnte Tennis spielen gehen. Aber er arbeitet lieber. „Logbuch, Lernbüro – das kannte ich alles nicht“, erzählt er. Der Englischlehrer wollte wissen: Wie geht das? „Ich war skeptisch“, gesteht er. „Aber ich bin verblüfft, wie gut es funktioniert. Die Schülerinnen sind ihren Altersgenossen weit voraus.“

Plötzlich gehen zwei Mädchen raus. Auf dem Flur setzen sie sich an einen kleinen Alu-Gartentisch. Wer mit seiner Aufgabe nicht weiterkommt und Hilfe braucht, schreibt seinen Namen an die Tafel. Eine ältere Schülerin schreibt dann ihren dazu und bietet so ihre Unterstützung an. Das läuft völlig selbstverständlich. Überall auf den langen, kargen Fluren trifft man auf solche Lerninseln.

Die Lernbüros wurden erst vor zwei Jahren eingeführt. Isabelle, 12, aus der 5a findet es gut, so selbständig zu lernen, weil „man den Stoff wiederholen kann, wenn man ihn im Unterricht nicht verstanden hat“. Und es fällt ihr leichter, eine ältere Schülerin zu fragen als einen Lehrer. Sechstklässlerin Pauline sagt: „Lernbüro ist wie Hausaufgaben machen – nur in der Schule“. Sie freut sich, dass sie nach 16 Uhr Zeit für ihre vielen Hobbys hat – so lange dauert der Ganztagsunterricht. Pauline turnt im Verein, spielt Cello, sie singt, tanzt und reitet. Von den Älteren sind nicht alle begeistert: Paula, 16, mit kleinen silbernen Totenköpfen als Ohrstecker, sagt: „Ich finde es manchmal nervig, wenn man ein Thema hat, das man nicht so mag.“ Schulsprecherin Sophia findet es schwierig, dass sie sich in Mathe den Stoff teilweise allein erarbeiten soll. „Dafür werden doch eigentlich die Lehrer bezahlt.“

Die Lehrer gehen gelassen mit der Kritik um. „Bei den Lernbüros gehen die Meinungen auseinander – auch bei den Lehrern“, sagt Gabriele Halligan. Manche Kollegen würden am liebsten alles kontrollieren, erzählt die Deutschlehrerin. Im Lernbüro geben sie aber die Kontrolle an die Schülerinnen ab. Sie selbst ist begeistert: „Die Altersmischung ist toll. Ich habe noch nie erlebt, dass eine ältere Schülerin einer jüngeren nicht hilft. Anschließend kommen beide strahlend wieder in das Klassenzimmer.“ Das Kollegium bleibt bei seinem Konzept, entwickelt es stetig weiter. Eineinhalb Jahre haben die Lehrer an den vielfältigen Materialien für die Lernbüros gearbeitet, aber sind noch nicht zufrieden: In den Schränken, in denen die Ordner mit Arbeitsmaterialien aufbewahrt werden, hängen Zettel. Auf denen notieren die Lehrer ihre Verbesserungsvorschläge. Und in Zukunft soll es auch noch Lernbüros für Erdkunde, Französisch und Physik geben.

„Wir tun schon viel“, sagt Lehrerin Halligan. „Nicht weil es verordnet wird, sondern weil wir das wollen. Dabei ist es für uns manchmal ein ziemlicher Spagat: Wir versuchen hier Schule anders zu machen, aber das bayerische Schulsystem schreibt uns vor, dass wir Tests und Exen schreiben müssen.“ – „Würgematerial“ nennt sie diese Prüfungen. Der pensionierte Lehrer Vollmar beobachtet: „Die haben hier Spaß an ihrer Arbeit und sind von 8 bis 17 Uhr an der Schule – ich bin ja noch so ein 8 bis 13 Uhr-Lehrer. Die Kollegen haben ein völlig neues Selbstverständnis.“ Sie arbeiten im Team, beobachten sich gegenseitig im Unterricht. Lehrerin Susanne Schöttl holt sich zum Beispiel bei den Naturwissenschaftlern gezielt Anregungen für ihren eigenen in den Fächern Englisch und Geschichte.

Physik-Unterricht in der neunten Klasse: Yvonne, Francisca und Kalbinur experimentieren mit Magneten und notieren die Ergebnisse. Die 16-jährige „Kalbi“, wie sie genannt wird, trägt ein braunes Kopftuch, sie kommt aus Kasachstan. 47 Prozent der Schülerinnen haben einen Migrationshintergrund. Viele muslimische Eltern sehen es gern, wenn ihre Töchter nur mit Mädchen lernen. Schulleiterin Espermüller-Jug ist das gar nicht recht, ihre Schülerinnen sollen ein modernes und aufgeklärtes Frauenbild bekommen.

Jedes Mädchen wird respektiert und gefördert. „Als ich auf die Schule kam, waren meine Mitschülerinnen viel weiter in Französisch als ich“, erzählt Yvonne. „Als mich die Lehrerin das erste Mal ansprach, habe ich überhaupt nichts verstanden. Ich habe angefangen zu weinen. Wie peinlich! Aber meine Lehrerin hat mit mir in der AG-Zeit Französisch wiederholt. Jetzt habe ich eine Zwei.“ Und statt Grammatik und Vokabeln zu lernen, kann sie am Dienstagnachmittag Theater spielen.

Yvonne ist keine Ausnahme. Während der AG-Zeit sitzt die stellvertretende Schulleiterin Simone Schild an einem silbernen Tisch auf dem Flur vor ihrem Büro und übt zusammen mit zwei Schülerinnen aus der zehnten Klasse Mathe für die Abschluss-Prüfungen. 70 Prozent der Mädchen gehen auf eine weiterführende Schule, auch Yvonne will nach der Mittleren Reife auf die „FOS“ gehen, die Fachoberschule. „Auch wenn es hier Jungs gäbe, die Schule wäre trotzdem gut“, sagt sie. „Weil wir anders sind als andere Schulen, viele neue Sachen ausprobieren. Und deshalb sollten wir den Schulpreis kriegen!“