Porträt

Auf Werner Schlöpkers Schreibtisch im Klassenzimmer der 7a stapeln sich Lehrbücher und Zettel, dazwischen liegen Stifte, sein Brillenetui, Handy und Ladekabel. Nur eine kleine Ecke des Tisches ist nicht bedeckt. Hier steht eine kleine tibetanische Klangschale auf einem grünen Seidenkissen. Er nimmt den Holzklöppel in die Hand und schlägt vorsichtig, aber bestimmt gegen die metallene Schale. Ein zarter, heller Klang ertönt. „Wir haben jetzt Lernbüro“, sagt der stellvertretende Schulleiter der Gesamtschule Münster-Mitte.

Die Jungen und Mädchen können nun selbst entscheiden, in welchem Fach sie arbeiten und welchen Lernschritt sie sich vornehmen. „So entsteht intrinsische Motivation“, ist Werner Schlöpker überzeugt. Er geht zu Sofia* und beugt sich über ihre Schulter: „Wie sieht es bei dir aus?“, fragt er. „Ich mache jetzt Englisch und danach Deutsch“, sagt sie.

Sofia besucht wie mehr als 900 Schülerinnen und Schüler die 2012 gegründete Gesamtschule Münster-Mitte. „Wenn man eine große, heterogene Gruppe vor sich hat, dann muss man natürlich überlegen, wie Lernen funktioniert. Ich kann nicht allen das Gleiche vorsetzen. Deshalb funktioniert Lernen bei uns einfach anders“, sagt Schulleiterin Kathrin Kösters. Seit ihrem Start arbeitet die Schule deshalb mit dem Konzept des selbstgesteuerten Lernens. Sie legt Wert darauf, dass die Kinder und Jugendlichen Selbstwirksamkeit erfahren und Verantwortung für den eigenen Lernprozess übernehmen.

Was das bedeutet, sieht man zum Beispiel an Sofias Arbeitsplatz: Neben ihr sitzt Liam*, direkt gegenüber arbeiten Muhamad* und Esther*. „Bei uns sitzen schon mal grundsätzlich alle an Gruppentischen. Wir wissen, dass die Schülerinnen und Schüler ganz viel voneinander lernen“, erläutert Kathrin Kösters und ergänzt: „Oftmals auch viel besser, als wenn eine Kollegin oder ein Kollege das erklärt.“ Zentrales Element des selbstorganisierten Lernens sind die Lernbüros, in denen die Schülerinnen und Schüler sich frei mit ihren individuellen Lernplänen beschäftigen. Die Pläne sind so angelegt, dass sie nach gemeinsamen Einführungsstunden selbstständig an den Zielen arbeiten können. In ihre persönlichen Logbücher tragen die Kinder und Jugendlichen ein, was sie in welchem Fach gelernt haben und was sie sich als Nächstes vornehmen.

Esther, die zu Sofias Tischgruppe gehört, schlägt ihr Logbuch auf. Überall stehen Notizen, manche Stellen hat sie farblich markiert. Esther zeigt auf drei bunte Balken: Der erste ist vollständig rot ausgemalt, die anderen beiden Balken nur zur Hälfte. Jeder Balken steht für ein Fach. „Ich habe diese Woche sehr viel für das Fach Deutsch gearbeitet. Für die nächste Woche nehme ich mir vor, mehr Mathe oder Englisch zu üben“, erklärt Esther.

Lernbüro, Lernpläne, Logbuch – diese Bausteine sind das Fundament, auf dem die Gesamtschule Münster-Mitte in den vergangenen Monaten aufbauen konnte. „Als Corona kam, mussten wir das alles digital umsetzen“, sagt Schulleiterin Kathrin Kösters. Das Kollegium überführte das Konzept des eigenverantwortlichen Lernens in den digitalen Raum und entwickelte es weiter. So entschied die Schule, die etablierte Tagesstruktur auch im Distanzlernen aufrechtzuerhalten. Dazu gehören virtuelle Klassenratsstunden, in denen die Woche geplant und besprochen wird, Unterrichtsstunden in Form von Videokonferenzen und freie Lernzeiten in digitalen Lernbüros. Selbst die Teamstrukturen der Schülerinnen und Schüler werden in den virtuellen Raum transferiert: Esther, Sofia, Liam und Muhamad können sich digital treffen, austauschen und gegenseitig helfen.

Ihnen gelingt das erfolgreiche Lernen auf Distanz, weil sie das selbstorganisierten Lernen lernen, seit sie die Gesamtschule Münster-Mitte besuchen. Auch das Arbeiten mit digitalen Tools ist für sie kein Hindernis. Denn schon vor der Pandemie hat die Schule eine digitale Infrastruktur aufgebaut. So sind zum Beispiel Bücher und viele Arbeitsmaterialien digital verfügbar, alle Schülerinnen und Schüler der Oberstufe arbeiten mit Tablets, die Unterstufen sollen bald folgen. Weil der Unterbau schon da war, konnte die Schule relativ nahtlos an den Präsenzunterricht anknüpfen, findet Lehrerin Kristina Brauch. „Es war spannend zu sehen, wie die Schülerinnen und Schüler sich durch diese Zeit geschlagen haben, wie cool die das gewuppt haben“, sagt sie stolz und fügt hinzu: „Die waren teilweise echt besser als wir unterwegs.“

* Name von der Redaktion geändert