Porträt

Die zehn Parlamentarier haben sich genau vorbereitet. Die Tagesordnung liegt vor ihnen auf dem Tisch, ordentlich in Klarsichtmappen abgeheftet, daneben ein spitzer Bleistift für Notizen – wie in der Einladung gefordert. Dominic, mit sieben Jahren der kleinste Abgeordnete, blickt mit großen, dunklen Augen erwartungsvoll zu Schriftführerin Gisela. „Ich eröffne das Schulparlament um 10.30 Uhr“, sagt Gisela Gravelaar, Schulleiterin der Wartburg-Grundschule in Münster. Wichtigster Punkt der Tagesordnung: Wer darf mit nach Berlin fahren, dem Bundespräsidenten Horst Köhler die Hand schütteln und möglicherweise die begehrte Trophäe entgegennehmen, den Deutschen Schulpreis?

„Unsere Schule gehört zu den 14 besten Schulen in Deutschland. Darauf können wir stolz sein“, sagt Schulleiterin Gisela Gravelaar, 53. „Leider können nicht alle zur Preisverleihung fahren. Fünf Schüler dürfen mit. Die wählen wir heute aus.“ Die Schulvertreter Lea und Hannes sind auf jeden Fall dabei. Bleiben noch drei. Schriftführerin Gisela gibt zu bedenken: Wer mitkommt, muss fünf Stunden mit dem Zug fahren, ohne Mama und Papa im Hotel übernachten. Nichts für Kinder mit Heimweh. Bei der Preisverleihung, die fürs Fernsehen aufgezeichnet wird, muss man lange still sitzen und vielleicht sogar Fragen über die Schule beantworten. Kolja, 11 Jahre, sagt selbstbewusst: „Also, ich denke: Das könnte ich ganz gut.“ Auch Dominic will mit nach Berlin. Am Ende werden Kolja, Peter und Simaw gewählt. Tapfer schluckt Dominic seine Enttäuschung herunter.

Routiniert gehen die zehn Schüler die übrigen Punkte durch: Einladung in die Handwerkskammer, Ansiedelung von Fröschen im Schulbach, Freigabe des neuen Klettergerüsts, Tag der offenen Tür für Eltern. Ein kurzes Blitzlicht: „Was fandest du gut?“, „Dass wir die Schüler für Berlin gerecht ausgewählt haben“, sagt Dominic, dann schließt Protokollantin Gisela pünktlich um 11.30 Uhr die Sitzung.

In der Wartburg-Grundschule in Münster begegnen sich die 360 Schüler und 40 Pädagogen und Erzieher auf Augenhöhe, alle sind per Du. Die Kinder dürfen mitbestimmen, nicht nur im Schulparlament. „Demokratie wird an dieser Schule ganz groß geschrieben“, sagt Enja Riegel. Die ehemalige Leiterin der legendären Helene-Lange-Schule in Wiesbaden ist Mitglied der Jury, die über die Vergabe für den Deutschen Schulpreis entscheidet. Nachdem sie die Wartburg-Grundschule im September zwei Tage lang inspiziert hat, stellt Enja Riegel der Wartburg-Grundschule ein hervorragendes Zeugnis aus: „Die Schule ist rundum sehr gut. Jedes Kind ist intensiv bei der Arbeit, mit sehr guten Materialien. Auch geistig behinderte Kinder werden integriert. An allen Ecken Kunst, dazu viel Theater und Musik. Und das alles in einer freundlich gelassenen und ermutigenden Atmosphäre.“ Nicht nur beim Schulklima und im Umgang mit der Vielfalt ihrer Schüler, auch bei den Kriterien Leistung, Unterrichtsqualität, Verantwortung und Schulentwicklung, erhielt die Schule hervorragende Noten.

Die Wartburg-Grundschule besteht aus vier hellen Häusern. Mit ihren flachen Dächern, großen Glasfronten und Holzterrassen erinnern sie an Reihenhäuser, nicht an eine Schule. „Kinder brauchen Geborgenheit“, erklärt Schulleiterin Gisela Gravelaar. „90 bis 100 Kinder sind in einem Haus untergebracht, sie kennen und helfen sich.“ Jedes Haus hat einen eigenen Zugang zum Garten. Während der großen Pause, die in der Ganztagsschule eine volle Stunde dauert, streifen Kinder durch die Büsche am Rand des Geländes, waten mit Gummistiefeln durch den Bach oder toben auf einem der vielen Klettergerüste herum. „Viele vergessen völlig, dass sie in der Schule sind, so sehr sind sie in ihr Spiel vertieft“, sagt Lehrerin Regina Schubert.

Die vier Häuser sind innen durch einen langen Flur miteinander verbunden. Überall auf dem Gang hängen Bilder und Kunstarbeiten der Kinder. Sogar die Toiletten haben sie gestaltet, Motiv in einem Mädchenklo: Indien. An der Wand prangt auf dunkelrotem Grund eine Tänzerin, ein Vorhang aus dünnem Organza hängt vor dem Waschraum. Nebenan bemalt eine Künstlerin zusammen mit Kindern gerade die Toilette der Jungs im Japan-Stil mit einem Sumo-Ringer. Die Häuser sind nach Kontinenten benannt: Afrika, Asien, Australien und Europa. Jedes hat zwei Stockwerke.

Unten sind zwei Klassen mit den Jahrgängen 1 und 2, darüber die Klassen 3 und 4. In drei Häusern dauert der Unterricht den ganzen Tag bis 15.40 Uhr, im Haus Asien endet der Unterricht mittags um 12.40 Uhr.

Das Gebäude, das 1996 gebaut wurde, spiegelt das Schulkonzept wider: Alle Türen haben Fenster – der Unterricht ist offen. Die Räume sind nicht rechteckig, sondern geschwungen und verwinkelt mit Nischen, in die sich die Schüler auf Sofas und Kissen zum Lesen und Arbeiten zurückziehen. In jeder Klasse steht ein Computer. Nur eine Tafel erinnert daran, dass man sich in einem Klassenzimmer befindet. In den offenen Regalen an den Wänden stehen bunte Kartons und Ordner, gefüllt mit Lernmaterialien, aus denen sich die Schüler gezielt nehmen, was sie brauchen.

Greta und Johanna sitzen im Untergeschoss des Europa-Hauses an einem Tisch. Die beiden Siar in die Klasse kommen, eine Nummer und suchen sich dann ihren Platz. „Dadurch sitzt man jeden Tag neben jemand anderem. Manchmal auch neben einem Kind, das man nicht so mag. Aber dann lernt man sich besser kennen und mag sich doch“, erzählt Greta.

Auf der Tafel steht der Plan für den Tag, heute liest ihn Karolina vor: „1. Tagesplan lesen, 2. Wochenarbeitsplan, 3. Frühstück und Pause, 4. Musik mit Wolfgang, 5. Mittagessen, 6. Was ihr wollt, 7. Faustlos, 8. Knobeleien.“ Gelernt wird in fächerübergreifenden Projekten und nach dem Wochenarbeitsplan, kurz „Wap“. Die Kinder bekommen viel Zeit zum Lernen: Der 45-Minuten-Takt wurde aufgehoben, die Stunden dauern 60 Minuten, oft gibt es Doppelstunden. Auch die Schulklingel wurde abgeschafft.

Johanna hat sich ihren „Wap“ gegriffen. Ein Heft, in dem rund zwanzig Aufgaben für die nächsten zwei Wochen stehen, zum Beispiel Aufgaben im Matheheft lösen oder Übungen im Schreibheft machen. Die Lehrer achten darauf, dass die Kinder alle Fächer gleichermaßen lernen. Wenn Johanna mit ihrem „Wap“ fertig ist, schreibt sie in ihr Heft, wie sie gearbeitet hat: Was ist ihr gut gelungen? Was nicht? Mit wem hat sie besonders gut gearbeitet? Denn oft gibt es Partner-Aufgaben. „Wenn wir im Wap alles fertig haben, dürfen wir Freiarbeit machen“, erklärt Johanna. Plötzlich ertönt ein Gong. Felina steht vor der Tafel, den Gong in der Hand. „Mir ist es hier zu laut“, sagt sie. Sofort sind alle 28 Kinder wieder ruhig. Felina geht an ihren Platz zurück und arbeitet weiter. Fachgespräche im Flüsterton sind erlaubt, lautes Gequatsche mit der Freundin nicht. Greta hat ihre „Lernlandkarte“ vor sich ausgebreitet. An einer langen Spur, die sich in Kurven über den DIN-A-3-Zettel schlängelt, stehen ihre Lernziele, abgeleitet vom offiziellen Lehrplan. Da heißt es zum Beispiel: „Ich kann anderen zuhören“, „Ich kann eigene Erlebnisse aufschreiben“ oder „Ich kann Zahlen bis 100“. Einige der Stationen hat Greta bunt angemalt, bei manchen steht „Ja“ dahinter, bei einigen „Nein“. „Nur Gisela darf die Kreise machen“, erklärt Greta. „Ich sage, was ich kann und sie prüft es mit mir.“ Schulleiterin Gisela Gravelaar unterrichtet zwölf Stunden bei den Igeln. „Wenn ich alles in der Lernlandkarte geschafft habe, dann komme ich zu den Luchsen“, erklärt Greta, die jetzt schon ein Jahr bei den Igeln ist. Die Luchse gehen in die Jahrgangsstufe 3 bis 4. Die Kinder lernen jahrgangsübergreifend, das heißt Erst- und Zweitklässler lernen zusammen, die Dritt- mit den Viertklässlern. „Wenn wir etwas nicht verstehen, dann fragen wir ein anderes Kind“, erklärt Greta. Erst wenn der Mitschüler nicht weiter weiß, fragen sie einen Lehrer. Alle profitieren von dem Helfer-System: Wer erklärt, der verfestigt sein Wissen. Und im nächsten Jahr sind die Kleinen die Großen und stolz darauf, den Neuen alle Regeln zu erklären und sie beim Lernen zu unterstützen. „Die Kinder kommen mit einem ganz unterschiedlichen Wissensstand zu uns“, erklärt Schulleiterin Gravelaar. „Wenn eines bei der Einschulung schon lesen kann, dann hat es das Recht zu lesen. Wenn ein Kind erst die Buchstaben lernen muss, dann tut es das. Ob ein Kind schnell oder langsam lernt, ist uns völlig egal.“ Und wer länger als die üblichen zwei Jahre braucht, der kann drei Jahre in der Lerngruppe bleiben.

So wie Luca. Der Zehnjährige ist seit den Sommerferien bei den „Wombats“, dem Jahrgang 3 bis 4 im Haus Australien. „Ich war in Mathe nicht so der Kracher, ich bin immer hinterher gehinkt. Deshalb bin ich noch ein Jahr geblieben. Das war nicht schlimm, ich fand es schön in meiner alten Klasse“, erzählt er seelenruhig. „In dem Jahr habe ich viel in Mathe gemacht. Und jetzt kann ich es sogar sehr gut.“ Sein Klassenkamerad Tim dagegen ist erst sieben und hat eine Klasse übersprungen.

In allen Klassen arbeiten zwei Grundschullehrerinnen und eine Erzieherin im Team. Während die „Wombats“ an ihrem „Wap“ arbeiten, werden sie von Klassenlehrerin Ulrike Ilskensmeier und Erzieherin Rita Wahle betreut. „Als Lehrerin achte ich vor allem auf die Leistung: Was können die Kinder? Rita hat einen ganz anderen Blickwinkel als ich. Davon profitiere ich unheimlich“, sagt die 42-jährige Lehrerin. Rita Wahle, 54, fügt hinzu: „Es gibt Kinder, die kommen bei der Klassengröße zu kurz, weil die Lehrerin nicht alle 24 Kinder gleichermaßen unterstützen kann. Darin sehe ich meine Aufgabe.“

29 Kinder mit besonderem Förderbedarf verteilen sich auf fünf Lerngruppen. In den Integrationsklassen gibt es neben der Grundschullehrerin eine Sonderschullehrerin und eine Heilpädagogin. Shirin geht in die Gazellen-Klasse. „Ich kann nicht so gut schreiben“, erklärt die Zehnjährige, während sie ihr Gesicht dicht an den Bildschirm ihres Laptops presst. Sie schreibt einen Aufsatz über das Theaterstück „Der kleine Horrorladen“, das sie am Tag zuvor gesehen hat. „Da gab es eine Fleisch fressende Pflanze, aber die war nicht echt“, beruhigt sie. Für die anderen Kinder ist es völlig normal, dass Shirin als einzige mit dem Laptop arbeitet.

Die Lerngruppen-Teams bereiten ihren Unterricht gemeinsam vor.

Alle zwei Wochen treffen sich die Kollegen aus den Nachbargruppen. Und einmal im Monat setzen sich alle Teams aus dem Haus zusammen. „Unsere Schule hat den Ruf, dass man hier mehr arbeiten muss als an anderen Schulen“, sagt Ulrike Ilskensmeier. Ein Wochenende gehe schon dabei drauf, wenn sie die „Waps“ durchsehe und neue schreibe. „Aber wenn ich abends manchmal denke: Ich bin so kaputt, morgen schaffe ich es nicht in die Schule, dann fällt mir sofort ein, was wir alles vorhaben und ich freue mich wieder auf die Kinder“, erzählt die Lehrerin. Obwohl es keine Noten gibt, sondern ausführliche Lernstandsberichte, keine Hausaufgaben und keine Klassenarbeiten, sondern viele Pausen, und alle Kinder ihre Lehrer duzen, herrscht an der Wartburg-Grundschule keine Kuschelpädagogik. „Wir sind eine Leistungsschule“, betont Schulleiterin Gisela Gravelaar. Und die ist in weiten Teilen überdurchschnittlich: Rund 70 Prozent der Schüler wechseln nach der vierten Klasse aufs Gymnasium oder die Gesamtschule, gut 20 Prozent gehen zur Realschule und nur 5 Prozent besuchen eine Hauptschule.

Auch auf den klassischen humanistischen Gymnasien kommen die Schüler gut zurecht, weil sie in der Grundschule gelernt haben, selbstständig zu lernen, Referate vorzubereiten und vorzutragen. Eine Mutter erzählt beim Info-Tag den neuen Eltern, die ihr Kind an der Wartburg-Grundschule anmelden wollen: „Mein Ältester ist inzwischen an der Uni. Jetzt, im Studium, schreibt er sich selbst Arbeitspläne zum Lernen, so wie er es hier in der Grundschule gelernt hat.“

Die Wartburg-Grundschule hat sich schon vor 30 Jahren vom Gleichschritt und dem klassischen Frontalunterricht verabschiedet. Seit 25 Jahren ist sie Ganztagsschule. „Diese Schule entwickelt sich immer weiter“, sagt Gisela Gravelaar. In Zukunft wollen die Lehrer alle Kinder zusammen unterrichten. „Die Schulen sollten mehr Freiheiten bekommen“, fordert die Schulleiterin. Sie und ihre Kollegen würden die Grundschulzeit gern um zwei Jahre verlängern, damit sie die Kinder nicht mehr so früh auf die weiterführenden Schulen verteilen müssen. Auch die Noten am Ende der vierten Klasse würden die Lehrer am liebsten abschaffen. „Noten sind ungerecht, sie beschämen die Kinder. Wir brauchen sie nicht, weil die Kinder auch ohne lernen wollen“, sagt Gisela Gravelaar. Durch die erfolgreiche Teilnahme am Deutschen Schulpreis, so hofft sie, „bekommen wir mehr Spielraum.“

„Unsere Schule hat gleich mehrere Preise verdient“, meint Luca von den „Wombats“. „Die Lehrer sind sehr nett, wir dürfen sie mit dem Vornamen ansprechen. Wir haben tolle Klettergerüste. Und es gibt keine Hausaufgaben.“ Auch die Schulpreis-Jury findet: „Von dieser Schule können Praxis, Wissenschaft und Bildungspolitik sehr viel lernen.“

Catrin Boldebuck