Porträt

Mit einer schnellen Bewegung seines Taktstocks bringt Stefan Ruppaner das Blasorchester zum Schweigen. „Ihr müsst das Solo aggressiver spielen“, sagt er und blickt dabei in Richtung der Schlagzeuger. Energisch klopft er mit dem Taktstock auf sein Notenpult und fordert: „Ruhe, bitte!“ Schlagartig hören die Bläserinnen und Bläser auf zu tuscheln und richten die Blicke wieder auf ihren Dirigenten. Stefan Ruppaner hebt seinen Taktstock, das Blasorchester setzt ein. Sie spielen „Old MacDonald had a farm“. Die jüngsten Musikerinnen und Musiker, die an diesem Dienstagmorgen im Keller des kleinen Rathauses von Wutöschingen proben, sind neun, die ältesten 13 Jahre alt. Die Jungen und Mädchen sind noch nicht lange dabei, sie haben erst vor wenigen Wochen oder Monaten angefangen Querflöte, Trompete oder Klarinette zu spielen. Sie besuchen die Alemannenschule, die gegenüber dem Rathaus liegt. Hier haben alle Schülerinnen und Schüler die Chance, ein Blasinstrument zu erlernen – rund 120 von knapp 640 Kindern nehmen das Angebot in Anspruch, die Besten schaffen es in das Schulorchester.

Stefan Ruppaner, der an diesem Morgen den Bläser-Nachwuchs dirigiert hat, ist Leiter der Alemannenschule Wutöschingen. Die Gemeinschaftsschule ist eine noch junge Schulform in Baden-Württemberg. Kern einer Gemeinschaftsschule ist das gemeinsame Lernen auf verschiedenen Niveaus von Klassenstufe fünf bis zehn, sie führt zum Haupt- und Realschulabschluss. Viele Gemeinschaftsschulen haben wie die Alemannenschule zudem eine Primarstufe. Die gymnasiale Oberstufe dagegen gibt es bislang nur an zwei von über 300 Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg, die Alemannenschule wird ab dem Schuljahr 2019/2020 die dritte im Bunde sein.

Draußen vor dem Rathaus trifft Stefan Ruppaner den Landwirt Florian Burkhard, dessen Bauernhof nur einen knappen Kilometer entfernt liegt. Der Schulleiter bleibt stehen und nimmt sich Zeit für einen kurzen Plausch. „120 Zicklein habe ich gerade. Die meisten Ziegen haben dieses Jahr Zwillinge bekommen“, erzählt der Bauer. „Das ist bestimmt eine ganz schöne Arbeit, oder?“, fragt Ruppaner. Florian Burkhard nickt. „Wär’ super, wenn du bald mal nach den Schulbienen gucken könntest“, sagt Ruppaner, und Burkhard nickt erneut. Die beiden Männer verabschieden sich mit einem Handschlag. Nur wenige Schritte liegen zwischen Rathaus und Schulgebäude. Ruppaner geht über den kleinen Schulhof, der wie ein Marktplatz wirkt – eine offene Fläche ganz ohne Zäune oder abgrenzende Hecken, gelegen in der Ortsmitte zwischen Kirche, Schule und Verwaltung. „Eine Absperrung brauchen wir nicht. Das ganze Dorf ist die Schule“, sagt der 60-Jährige. Wutöschingen ist eine kleine Ortschaft im südwestlichsten Zipfel Deutschlands, am Rande des Schwarzwaldes und nur wenige Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt. In der gleichnamigen Gemeinde, zu der noch vier weitere Ortschaften gehören, leben rund 6.600 Menschen. Das Aluminiumwerk prägt das Ortsbild von Wutöschingen, es ist der größte Arbeitgeber in der Region.

Wenn Stefan Ruppaner sagt, das ganze Dorf ist eine Schule, dann meint er das auch genau so. Die Alemannenschule ist eng mit der Gemeinde verzahnt. So eng, dass das Dorf zum Campus der Schule wird. Das beginnt damit, dass die Bläserinnen und Bläser morgens im Rathaus proben und nicht im Schulgebäude. Für die Gemeindebücherei hat die Schule einen Schlüssel, damit die Kinder auch außerhalb der Öffnungszeiten auf das Angebot zugreifen können. Und das Aluminiumwerk sowie der Landwirtschaftsbetrieb von Florian Burkhard sind zwei von vielen außerschulischen Lernorten, die als selbstverständliches Element zum Schulalltag gehören. Im „Lerndorf Wutöschingen“ ist die Alemannenschule das Zentrum, der Platz, an dem sich alle begegnen.

Von außen sieht sie aus wie eine gewöhnliche Schule: zwei Gebäudekomplexe, der eine älter, der andere moderner. Doch hinter der Fassade ist alles anders – in jeder Hinsicht. Lina, Vanessa, Anna und Sina sitzen mit ihren iPads auf froschgrünen Sofas. Alle Kinder der Alemannenschule haben ein eigenes Tablet. Die Lehnen der Sitzmöbel sind so hoch, dass die vier Mädchen ungestört sind und sich ganz auf ihre Arbeit konzentrieren können. Sie trainieren gemeinsam, wie sie Texte fetten oder kursiv setzen können, wie sie die Schriftgröße verändern und Aufzählungszeichen richtig verwenden. Doch auf Annas Bildschirm öffnet sich immer wieder ein Pop-up-Fenster, das sie am Weiterarbeiten hindert. Die Schülerin der fünften Jahrgangsstufe bittet Stefan Ruppaner um Hilfe. Der Schulleiter, der selbst ständig mit einem iPad unterwegs ist und seinen Arbeitstag damit organisiert, kann das Problem nicht sofort lösen. „Frag einen iPad-Assistenten“, rät er. iPad-Assistenten sind Schülerinnen oder Schüler, die besonders gut mit der Technik vertraut sind, regelmäßig Schulungen besuchen und anderen Kindern helfen, mit den Tablets zurechtzukommen.

„Bei uns kann sich jeder selbst aussuchen, was er können will“, erklärt Ruppaner. So gibt es zum Beispiel Schülerinnen und Schüler, die als Schulsanitäterinnen und -sanitäter arbeiten. Sie leisten im Notfall Erste Hilfe und informieren bei Bedarf den Rettungsdienst. Andere Kinder kümmern sich um das reibungslose Funktionieren des WLAN-Netzwerkes. Die Alemannenschule ist eine rundum digitale Schule. Eine eigene digitale Lernplattform ermöglicht es den Lehrkräften, die Schülerinnen und Schüler individuell beim Lernen zu begleiten. Eltern können das Tool nutzen, um den Lernfortschritt ihrer Kinder online zu verfolgen.

Neben den froschgrünen Sofas stehen zwei blaue Sofas. Hierhin haben sich Erik und Marlon, beide aus dem siebten Jahrgang, zurückgezogen. Erik ist seit dem sechsten Schuljahr an der Alemannenschule und stolz, dass er auf dem Marktplatz, wie die offene Lernlandschaft genannt wird, arbeiten darf. „Ich bin nach wenigen Wochen Durchstarter geworden und musste nie auf Anfang zurück. Ich habe nur einmal eine Verwarnung bekommen, weil ich zu lange gequatscht habe“, erzählt der Junge. An der Alemannenschule bekommen die Kinder ab der fünften Klasse einen Vertrauensvorschuss und erhalten den „Starter“-Status. Lernen sie erfolgreich und halten sich an die Regeln, werden sie „Durchstarter“ wie Erik, Marlon und die vier Mädchen auf den grünen Sofas. Durchstarter dürfen entscheiden, was sie wann und wo lernen. Dazu gehört auch, dass sich die Kinder frei auf dem Schulgelände bewegen und die Gemeindebibliothek besuchen dürfen. Wer die Stufe „Lernprofi“ erreicht, hat noch mehr Freiheiten. Verspielen die Kinder ihren Vertrauensvorschuss, verlieren sie viele dieser Rechte. Als „Neustarter“ werden sie dann wieder enger von den Lehrkräften geführt, müssen sich das Vertrauen zurückgewinnen und bis dahin den Schultag in ihrem Lernatelier verbringen.

Die Lernateliers befinden sich in der Etage über dem Marktplatz und sind ein innenarchitektonisches Juwel. Große Fenster tauchen die hohen Räume in helles Tageslicht. Was die Lernateliers aber so besonders macht, sind die „Hühnerställe“ aus weiß gebeiztem Holz, wie Stefan Rupanner die sich über zwei Ebenen erstreckenden Arbeitsplätze bezeichnet. Sie ähneln überdimensionalen Etagenbetten mit Raum für insgesamt acht oder mehr Schreibtische. In den Lernateliers hat jedes Kind seinen eigenen Arbeitsplatz. Lernateliers, Marktplatz, Lerndorf – herkömmliche Klassenräume gibt es in der Alemannenschule kaum. Klassischer Unterricht weicht einem sehr offenen Lernkonzept. Den Großteil des Schultages lernen die Kinder individuell, nur für die Input-Phasen sitzen sie in Gruppen mit der jeweiligen Lehrkraft zusammen. Auch typische Klassenstrukturen sucht man hier vergeblich.

In den Lernateliers arbeiten die Schülerinnen und Schüler ab dem fünften Jahrgang in altersgemischten Gruppen. Im Mittelpunkt stehe das Coaching, so Ruppaner. Jede Lehrkraft betreut eine Gruppe von 14 Schülerinnen und Schülern. Sie sollen die Lernenden begleiten und persönliche Beziehungen aufbauen. „Dazu gehört auch, die Kinder daheim zu besuchen und zu wissen, wie der Hamster heißt“, erklärt Ruppaner und ergänzt: „Denn Lehrer unterrichten bei uns nicht das Fach, sondern die Schüler.“ Ein Junge läuft an Ruppaner vorbei und grüßt freundlich. „Wie geht es dem Opa?“, fragt der Schulleiter. „Gut“, antwortet der Schüler. „Ja? Na, dann bestell einen lieben Gruß“, sagt Ruppaner. Man kennt sich hier.