Freies Lernen, aktivierender Unterricht und systematische Entwicklung
Im Interview erklärt Jurymitglied Nils Euker, warum das Fach „Freies Lernen“ die besondere Stärke der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck ist und was die Unterrichtsqualität darüber hinaus auszeichnet.
Mit welchen Erwartungen sind Sie zur Schule gereist?
In der Bewerbung wurde ausführlich das Konzept des Freien Lernens beschrieben. Viele Schulen setzen selbstreguliertes Lernen um, und wir wissen, wie wichtig und sinnvoll das für die Schüler:innen ist. Wir wollten sehen, ob das Fach „Freies Lernen“ in den vier dafür vorgesehenen Stunden tatsächlich so gelebt wird wie beschrieben. Und vor allem: Überträgt es sich auf den Fachunterricht? Oder bleibt das Fach eine isolierte Insel im Stundenplan, während der übrige Unterricht klassisch abläuft?
Was haben Sie vor Ort erlebt?
Unsere Erwartungen wurden klar übertroffen. Das freie, selbstregulierte Lernen wird hier über vier Jahre im Fach „Freies Lernen“ systematisch aufgebaut und führt die Kinder Schritt für Schritt zu mehr Eigenverantwortung. In den vorgesehenen Stunden war das sehr gut zu beobachten, ebenso im projektbasierten Unterricht und sogar im Fachunterricht. Die Ansätze des freien Lernens wirken wie ein Motor, der aktive Lernprozesse, kognitive Aktivierung und entdeckendes Lernen in alle Unterrichtsformate trägt. Gleichzeitig prägt es die Unterrichtsentwicklung im Kollegium nachhaltig und ist damit ein intelligenter Weg, die Unterrichtskultur langfristig zu verändern.
Was passiert in den vier Stunden „Freies Lernen“?
Die Schüler:innen arbeiten an einem Projekten zu einem selbstgewählten Thema, allerdings nicht von Anfang an. Von Klasse 5 bis 8 werden sie schrittweise an selbstreguliertes Lernen herangeführt. In Klasse 5 gibt es feste Themen, wie beispielsweise „Meine neue Schule“ oder „Steinzeit“, und vorgegebene Forschungsfragen, die in kleinen Einheiten eng von Lehrkräften begleitet werden. Jede Stunde ist klar strukturiert mit Zielsetzung und Reflexion. Mit jedem Jahr wächst die Selbstständigkeit, bis die Jugendlichen in Klasse 8 auf Grundlage von drei Jahren Übung und schrittweiser Öffnung eigene Themen entwickeln und Projekte eigenverantwortlich umsetzen.
Was zeichnet die Unterrichtsqualität darüber hinaus aus?
Der Unterricht ist aktivierend, fordert die Schüler:innen zum Denken heraus und greift immer wieder selbstregulierende Elemente auf, oft inspiriert durch das „Freie Lernen“. Er ist gut organisiert und strukturiert, was das binnendifferenzierte und kooperative Lernen unterstützt. Klare Classroom-Management-Elemente schaffen Orientierung. Lehrkräfte begleiten den Lernprozess und führen Lernentwicklungsgespräche. Auffällig ist die Begeisterung, mit der Schüler:innen sich auf Lerngegenstände einlassen – ob beim Erstellen von Podcasts, beim Präsentieren von Korrekturprozessen im Spanischunterricht oder beim kritischen Einsatz von KI. Der Fokus liegt nicht nur auf dem Ergebnis, sondern stark auf dem Lernweg. Besonders beeindruckend ist auch der Umgang mit einer äußerst heterogenen Schüler:innenschaft. Die Schule schafft trotz ihrer Größe von fast 1.200 Schüler:innen einen geschützten Rahmen, in dem sich alle gesehen und zugehörig fühlen.
Was macht diese Schule preiswürdig?
Die Schule geht mit ihrer heterogenen Schüler:innenschaft auf herausragende Weise um und verbindet das mit einer Unterrichtsqualität, die das Ergebnis eines langen, systematischen Entwicklungsprozesses ist. Über das „Freie Lernen“ hat das Kollegium moderne und qualitätsvolle Unterrichtsformen etabliert, die im Schulalltag konsequent gelebt werden. Alles, was man vor Ort erlebt – konstruktive Unterstützung, hohe Aktivierung der Schüler:innen, spürbare Freude am Lernen –, ist Ausdruck dieser gezielten Arbeit an der Unterrichtsqualität. Genau diese Verbindung von gelebter Inklusion und kontinuierlicher Schul- und Unterrichtsentwicklung mit Fokus auf Unterrichtsqualität macht die Schule preiswürdig.
Zum Jurymitglied: Nils Euker ist Schulleiter der Mosaikschule Marburg.