Porträt

Robert * sitzt auf dem Boden im Schulflur. Immer mal wieder erscheint eine Lehrerin im Türrahmen über dem 12-Jährigen. "Robert, komm jetzt wieder rein." "Nein! Ich hab keine Lust!" Der Ton der Lehrerin wird nachdrücklich: "Robert, du musst!" Der Junge antwortet wütend: "Ich will aber nicht." Die Lehrerin versucht es sanft: "Wir proben ein Theaterstück, du könntest mitmachen." "Nein." "Dann gib mir dein Logbuch." Seufzend kramt der Junge ein Heft hervor. Klapp. Tür zu. "Jetzt schreibt sie wieder rein, dass ich die Arbeit verweigere", sagt er. Minuten später öffnet sich die Tür, konzentriertes Murmeln von 30 Schülerinnen und Schülern. "Hier, klär das bitte mit Steffi."

Robert besucht seit einem halben Jahr die Freiherr-vom-Stein-Schule in Neumünster. Aber er will hier nicht sein: Noch kein Lehrer hat ihn dazu gebracht, auch nur seine Jacke auszuziehen. Meist setzt er sich gar nicht erst hin. Die meisten Lehrkräfte lehnt er ab. Nur Steffi Grams, die Schulsozialarbeiterin, die findet er ganz ok. Na gut, dann eben wieder zu ihr. Die wäscht aber gerade ihren Kolleginnen und Kollegen den Kopf. "Lehrer haben oft den Blick nur darauf, was nicht läuft", sagt sie in der Konferenz. Die Teilnehmenden sind dankbar für das Feedback. Steffi Grams erinnert sich noch gut an ihren ersten Tag an der Steinschule vor knapp drei Jahren. "Die Lehrer haben mir zugehört und sogar mitgeschrieben! " Das kannte sie bis dahin nicht.

Diese Teamarbeit ist kein Selbstzweck, sondern der einzige Weg, um Schülern wie Robert gerecht zu werden. "Reibt euch doch nicht daran auf, dass er seine Jacke nicht auszieht!", mahnt sie. "Robert hat zu Hause größere Probleme als in der Schule. Wenn er sich bei uns wohl fühlt, wird er sie schon ausziehen."

Kurz darauf sitzt der Fünftklässler in ihrem Büro. "Zeig mal deinen Plan für heute", sagt sie. Sie blättert durch das leere Heft. Das Logbuch ist eigentlich das Herzstück des Lernens an der Steinschule: Jeder Schüler trägt seinen Plan für die Woche ein und berichtet am Ende, was er gelernt hat und wie er weiter vorgehen will. In Roberts Logbuch steht meist nichts - oder nur ein Satz: "Ich mach heute nichts."

Anfangs sei sie nicht sicher gewesen, ob er das Lernsystem überhaupt verstanden habe, sagt Grams. Aber nun zeichnet sich eine Wende ab. Das Kompetenzraster der aktuellen Lernphase hat er bunt angemalt: Den Satz "Ich weiß, was eine Fabel ist" hat er grün markiert, ebenso "Ich kann untersuchen, wann und wo Fabeldichter gelebt haben". "Äsop wurde gehenkt", sagt er, "aber ich habe nicht rausgefunden, wann er geboren wurde." Steffi Grams lächelt ihn an: "Super, dann hast du doch schon einen Plan für morgen!" In der Pause wird Lars Ziervogel, Mitglied des Schulleitungsteams, wieder zum Schüler. Zwei jüngere Kollegen erklären dem Mathelehrer, wie er am besten die neue digitale Lernplattform befüllt. "Du kannst auf Lernspiele im Internet verlinken", sagt der eine und zeigt, wie er die Lerneinheit "Geodreieck und Winkelmessen" aufbereitet hat. "Das ist eine riesige Erleichterung, wenn die Schüler selbst nachschauen können, wie man einen Winkel misst", sagt Ziervogel. Dann bleibt im Unterricht mehr Zeit für das Wesentliche: tiefergehende Fragen stellen, diskutieren, forschend lernen. Folgerichtig nennen sich die Lehrenden hier Lernberater.

Sie sind es gewohnt, ihre Lehrmaterialien umzustellen. Die Plattform, in die Schülerinnen und Schüler sich einloggen und Lernstoff bearbeiten, ist der vorerst letzte Höhepunkt einer langen Schulentwicklung: "Bei uns macht keiner etwas allein", sagt Schulleiterin Maike Schubert. Was anstrengend klingt, entlastet auch: An der Schule unterrichten alle Lehrkräfte mit den gleichen Materialien. Je alle knapp 300 Schülerinnen und Schüler der Unter- und der Mittelstufe bearbeiten parallel die gleiche fünfwöchige Lerneinheit, in der Stoff für jedes Fach unter einem gemeinsamen Motto steht. Mit dem Kompetenzraster können sie entscheiden, welche Aufgabe ihrem Lernstand entspricht: So passt sich der Stoff fließend an sie an.

"Das kann man verlängern!", ruft eine Fünftklässlerin und zeigt auf das Wort "Glaubensbekenntnes", das ein Mitschüler ans Whiteboard geschrieben hat. "Dann hört man das 'i'." "Ist 'ent' eine Vorsilbe?", fragt ein Siebtklässler und zeigt auf "Entäuschung": zwei "t" oder nur eines? Wie ein Team von Kommissaren ermitteln zwei Schülergruppen gegen die Tücken der Rechtschreibung. "Endbahnhof" oder "Entbahnhof"? "Vorfahrtsschild" mit "d" oder "t"? Schließlich gilt es, den Wettbewerb zwischen den beiden Gruppen zu gewinnen. Teamwork hilft, jeder kann von jedem lernen. Die Rechtschreibförderung ist so beliebt, dass sich viele Schülerinnen und Schüler freiwillig melden.

Der Weg hierher war nicht immer einfach. 2007 wurden in Schleswig-Holstein die Realschulen abgeschafft, zeitgleich ging die Führungsriege der damaligen Realschule in Ruhestand. "Entscheidet ihr, wie es weitergehen soll", rief sie den jüngeren Kollegen noch zu. "So ist das beim Changemanagement", sagt der stellvertretende Schulleiter Olaf Hubert, "es muss echte Not herrschen." In diesem Fall: keine Führung, eine schwierige Lage in strukturschwacher Umgebung und eine total offene Zukunft. Das halbe Kollegium begab sich in Klausur - und warf alles über den Haufen, was es bisher kannte. "Es war eine euphorische Stimmung", erinnert sich Schulleiterin Schubert. Leitfrage der Klausur sei gewesen: "Was ist mein Traum von Schule?" Die Lehrerinnen und Lehrer führten das klassenübergreifende Lernen 5 bis 7 und 8 bis 10 ein und schafften den Frontalunterricht ab.

"Anfangs gab es enormen Widerstand von Kollegen und einigen Eltern - vor allem außerhalb der Schule", erinnert sich Schubert. Auch die Schülerinnen und Schüler mussten sich erst daran gewöhnen. Weil das Unterrichtsmaterial neu aufgebaut werden musste, starteten sie mit Lernspielen - "aber die Schüler haben nur 'spielen' gehört", sagt Schubert. Beim offenen Arbeiten genossen sie lautstark die neue Freiheit. "Offener Unterricht braucht viel Steuerung", weiß sie heute. Aber auch das musste erst erarbeitet werden.

Jetzt steht der nächste große Kampf an: der um die Akzeptanz. Rike Früchtenicht aus dem Schulleitungsteam betrachtet ein Plakat in ihrem Büro: "Raus aus der Schule, rein in die Schule" steht darüber. Die Idee ist klar: Die Schule muss Freunde finden und dafür rausgehen oder andere einladen. Viele in der Stadt sind misstrauisch. "In dieser Schule lernt man nichts, weil kein Lehrer vorne steht", heißt es in Neumünster. Dieses bunte Schulprojekt, zu dem sich die einst konservative Realschule entwickelt hat, behagt vielen nicht. Das aktuelle Projekt: Bewohner des benachbarten Seniorenheims und die Kita-Kinder zur singenden Pause einladen.

"Ain’t nobody, loves me better", schallt es durchs Treppenhaus, der Schulchor singt inbrünstig am Fuß der Treppe, ein Lehrer haut leidenschaftlich in die Tasten, auf den Stufen stehen Schüler und mimen mit ihren Handytaschenlampen schwingende Feuerzeuge. Auch drei Lehrerinnen singen mit - "hach, das ist die erholsamste Art der Pause", ruft eine ihrer Kollegin zu. Auf dem Sofa vor dem Lehrerzimmer sitzt Robert mit seinen Freunden und zockt. Er hat seine Jacke ausgezogen. Die Lehrer haben die kleine Revolution auf dem Schulflur noch gar nicht bemerkt.

* alle Schülernamen von der Redaktion geändert.