Porträt

Wenn Noris vorlesen soll, wird seine Stimme immer ganz leise. Schüchtern schiebt er vorweg: „Aber mein Text ist nur ganz kurz.“ Der dunkelhäutige Junge mit den breiten Schultern wirkt eigentlich nicht wie einer, der sich klein machen muss. Aber das Vorlesen fällt dem Zwölfjährigen sichtlich schwer, seine Mitschüler lauschen geduldig, wie er ein Wort nach dem anderen zögerlich über die Lippen schiebt. „Das war doch gut“, sagt sein Nebensitzer Pablo hinterher aufmunternd.

Deutsch in der 6a in der Integrierten Gesamtschule Bonn-Beuel. Auf den ersten Blick eine klassische Stunde. In Kleingruppen besprechen die Schüler ihre Hausaufgaben. Erst auf den zweiten Blick fallen die Besonderheiten von Bonns größter Schule auf. An einem Tisch sitzt ein Kind im Rollstuhl, ein Mädchen am Nebentisch wirkt viel jünger als ihre Mitschüler. Sie ist erst neun und hat einige Klassen übersprungen, dafür Schwierigkeiten, sich sozial zu integrieren. Einer ihrer Klassenkameraden ist fünf Jahre älter, er musste Schuljahre wiederholen. Zwei andere Kinder der Klasse gelten als lernbehindert. Der gemeinsame Unterricht mit ihren Klassenkameraden ohne Behinderung bietet diesen Kindern viele Möglichkeiten jenseits der klassischen Förderschulen. Das erlebt gerade auch Noris, dem eine Sprachbehinderung attestiert wurde. Noris’ Freunde halten sich mit solchen Definitionen nicht auf. „Lies doch einfach ein bisschen lauter“, sagt Pablo, „du denkst immer, das ist peinlich, wenn du liest, aber das ist es gar nicht.“

Noris und Pablo sind zwei von knapp 1400 Schülern, die an der IGS Bonn-Beuel unter dem Motto „Eine Schule für alle Kinder“ gemeinsam lernen. Ein zentrales Standbein dabei ist der gemeinsame Unterricht von Förderschülern und solchen, die keine sonderpädagogische Förderung benötigen. Von sechs Parallelklassen sind je zwei gemischt. Jeder Schüler wird gemäß seiner Bedürfnisse individuell gefördert, dafür sorgen die Lehrer mit sonderpädagogischer Ausbildung, die die Fachlehrer begleiten. Aber vom Leitsatz „Jedes Kind ist einzigartig“ soll die ganze Schule profitieren, denn: Heterogenität fördert und fordert alle. Das hat die Wissenschaft der Schule schon vor 24 Jahren bestätigt, als die IGS gemeinsamen Unterricht auch gegen anfängliche Widerstände durchsetzte. Inzwischen hat es sich herumgesprochen; die Nachfrage nach Schulplätzen ist am 30. Geburtstag der Schule größer als das Angebot.

Das war nicht immer so. Noch vor zwölf Jahren litt die IGS unter einem für Gesamtschulen nicht seltenen Problem: Angesichts der Konkurrenz dreier privater Gymnasien in direkter Nachbarschaft war die Gymnasialspitze fast weggebrochen. Gesamtschulen hatten den Ruf, nur die Schwachen zu fördern. „Man muss natürlich dafür werben, dass Heterogenität eine große Chance ist“, sagt Jürgen Nimptsch heute. Das tut der Schulleiter seit seinem Amtsantritt.

1996 richtete sich die Schule neu aus, die individuelle Förderung wurde zentraler Teil des Profils. Innerhalb weniger Jahre verdoppelte Nimptsch die Zahl der Schüler mit Förderbedarf, zudem wurde die Förderung Hochbegabter ins Programm aufgenommen. „Durch die Integration wird Sozialkompetenz wie von selbst erworben“, sagt Nimptsch.

Sozialkompetenz klingt reichlich abstrakt für das, was die Schüler an der IGS täglich erleben. „Man lernt halt, anderen zu helfen“, sagt die zehnjährige Carolin. Und wieso auch nicht: „Die sind ja genauso nett wie die anderen Kinder.“ Zuvor hat sie ihrer geistig behinderten Freundin Annika beim Experiment „Hast du Töne?“ eine Stimmgabel angeschlagen, ihr die Haare aus dem Gesicht gestrichen und die Stimmgabel an die Wange gehalten. „Was fühlst du?“ Annika hat die Nase gekräuselt und gegrinst. „Es kribbelt.“ Gemeinsam haben die Schülerinnen die Beobachtung in Annikas Heft geschrieben. „Stationenlernen“ heißt die Methode, mit der die Schüler der 5a an diesem Morgen im Fach Naturwissenschaften das Wesen der Töne und Schwingungen erforschen. Es ist das erste Mal, dass die Jüngsten der Schule eine Lernmethode ausprobieren, die sie durch alle Klassen begleiten wird: In Kleingruppen machen sie verschiedene Experimente. Förderlehrerin Gerlinde Klein hat ein besonderes Auge auf Annika sowie auf ein gehbehindertes Mädchen, einen Jungen im Rollstuhl und einen autistischen Jungen. „Wir thematisieren natürlich, dass sie anders sind“, sagt sie. Aber es wird wie selbstverständlich damit umgegangen.

Aber es gab auch andere Zeiten. Zeiten der Unsicherheit. Jonas brachte Gerlinde Klein an ihre Grenzen. Vor sechs Jahren war er ihr erster autistischer Schüler. „Jonas hat in der fünften Klasse die Hälfte der Zeit unter dem Tisch verbracht und geweint“, erinnert sie sich. Mit solchen Situationen umgehen, das lernt man in keinem Studium. Gerlinde Klein hat sich Schritt für Schritt herangetastet, viel gelesen und mit Therapeuten gesprochen. Sie wurde in dieser Zeit zu Jonas´ Ansprechpartnerin. In kleinen Schritten lernte sie, wie sie den Schüler erreichen konnte, was ihm half. „Für Autisten gibt es keine andere Schule“, sagt sie. Weder Einrichtungen für geistig Behinderte noch Schulen für Erziehungsschwierige werden ihnen gerecht. Die Jahre haben die Lehrer zu Experten werden lassen. Vieles hängt von ihrem Engagement ab. Jede Integrationsklasse wird von einem Fachlehrer und einem Integrationslehrer mit sonderpädagogischer Ausbildung betreut. „Nach etwa fünf Jahren im Schnitt haben beide Kompetenzen in beiden Bereichen“, sagt Schulleiter Nimptsch. Eine Ausbildung zum Lehrer für Integrationsklassen gibt es nicht. Nur die Praxis zählt. Für die Lehrer bedeutet das oft mehr Arbeit, doch der Erfolg motiviert. Nimptsch hat keine Probleme, geeignetes Personal zu finden, viele wollen an der Schule unterrichten, die mit einem einst umstrittenen Konzept beste Ergebnisse erzielt: Bei Lernstandserhebungen erhält die Schule seit 2005 durchgängig in allen Fächern die Auszeichnung „exzellente Ergebnisse“, die Schüler liegen mit ihren Abschlüssen über dem Durchschnitt, in 30 Jahren verließen nur zwölf ohne Abschluss die Schule. Die Kinder mit Förderbedarf erreichen im gemeinsamen Unterricht ungleich bessere Abschlüsse als Gleichaltrige auf reinen Förderschulen.

Auch Jonas muss sich heute nicht mehr unter dem Tisch verstecken. Er ist in der 11. Klasse und wird in zwei Jahren Abitur machen. Dass er es so weit geschafft hat, ist nicht selbstverständlich, findet er: „Es ist ein großes Glück, dass ich auf dieser Schule gelandet bin.“ Er hat den Raum bekommen, den er brauchte. Wenn ihm mal wieder alles zu viel wurde, durfte er allein in der Bibliothek sein. Die Lehrer übten soziale Verhaltensweisen mit ihm ein und warben bei den Mitschülern um Verständnis. Heute merkt man ihm den Autismus kaum noch an. Dank der IGS, sagt er: Die Möglichkeiten des gemeinsamen Unterrichts und die Offenheit der Lehrer und Mitschüler hätten ihn aus einem Loch geholt. „Ich will mir gar nicht vorstellen, was ohne Frau Klein aus mir geworden wäre“, sagt er leise. Nach dem Abitur wird er Geologie studieren.

Eva Wolfangel