Porträt

„Mein Zahn ist gerade rausgefallen“, ruft Emma aufgeregt. Ihre Lehrerin Simone Schick reagiert sofort: „Echt? Zeig mal!“ Emma kommt ganz nah an die Kamera heran, öffnet ihren Mund und zeigt stolz die neue Zahnlücke. Ihre Klassenkameradinnen und -kameraden schauen gebannt auf den Bildschirm und inspizieren Emmas neues Lächeln. Begegnungen wie diese sind auch in der Pandemie Alltag an der Grundschule am Dichterviertel in Mülheim an der Ruhr. Sie arbeitet intensiv daran, dass die „Seele“ der Schule auch in diesen Zeiten für alle Mitglieder der Schulgemeinschaft spürbar ist.

Die „Seele“ der Schule – das heißt, dass die Grundschule am Dichterviertel eine Schule für alle Kinder ist, sie will jede Schülerin und jeden Schüler wachsen lassen. „Und zwar elternunabhängig“, betont Schulleiterin Nicola Küppers. Das Schulklima ist geprägt von Wertschätzung, individueller Zuwendung und einer guten, vertrauensvollen Beziehungskultur. Als Nicola Küppers 2013 die Leitung der Schule übernahm, wollte sie einen Ort schaffen, an dem Bildungsgerechtigkeit nicht nur ein Schlagwort ist, sondern wirklich gelebt wird und exzellente Leistungen für jedes Kind ermöglicht werden. Damals hatte die Schule keinen guten Ruf, es gab kaum neue Anmeldungen, die Lernstandsergebnisse lagen im Vergleich zu anderen Grundschulen deutlich unter dem Durchschnitt.

Heute ist die Grundschule am Dichterviertel sehr nachgefragt, ihre Leistungen sind überdurchschnittlich. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler hat sich in den vergangenen Jahren verdoppelt – inzwischen lernen hier rund 200 Kinder. Mehr als zwei Drittel von ihnen kommen aus Familien mit einem Migrationshintergrund, viele beziehen Sozialleistungen. Die Grundschule hat sich zu einer Schule mit den Schwerpunkten Inklusion und Begabtenförderung entwickelt. Gelungen ist ihr diese Entwicklung vor allem über eine Verständigung auf Qualitätsstandards für den Unterricht.

Um Bildungsgerechtigkeit auch in der Pandemie zu sichern, überträgt die Grundschule ihr Konzept schnell und konsequent in den digitalen Raum und organisiert durchgängigen Unterricht. „Es galt, die Steuerung von Lernen nicht durch Arbeitspakete an die Eltern zu delegieren. Das ist die zentrale Stellschraube, um Bildungsbenachteiligungen in der Krise zu minimieren“, erklärt Nicola Küppers. Um allen Kindern einen Zugang zum digitalen Unterricht zu sichern, schafft die Schule kurzerhand weitere Endgeräte an, verleiht unbürokratisch die technische Ausstattung aus dem schulischen Bestand und verteilt WLAN-Guthaben an Familien. Ein digitaler Sendeplan mit einem Morgenkreis als Begrüßungsritual, individueller Lernwegsplanung, einer 15-minütigen Englisch-Time, Erklärvideos und Lernangeboten in allen Fächern leitet die Schülerinnen und Schüler durch ihren Tag, der nachmittags mit einer Lernwegsreflexion und einem Ausblick endet. Die verlässliche Struktur gibt den Kindern Halt. Sie arbeiten zu Hause mit Lernformaten wie Lernstraßen und Kompetenzrastern, die sie schon aus dem Präsenzunterricht kennen und die von den Lehrkräften für den digitalen Unterricht angepasst wurden. Die digitalen Lernwege mit selbst entwickelten Erklärvideos ermöglichen den Kindern ein selbstständiges Arbeiten. Während dieser Phasen ist eine Lehrkraft digital über Video erreichbar und hilft bei Fragen.

Auch die Klassenräte und das Schülerparlament setzt die Grundschule am Dichterviertel in der Pandemie fort. Die Kinder treffen sich in virtuellen Konferenzräumen und halten ihre Ideen und Pläne auf digitalen Pinnwänden fest. Für die Eltern erweitert die Schule die Begegnungs- und Austauschräume: Sie bietet digitale Sprechstunden an und streamt Elternabende live. Außerdem richtet sie einen mehrsprachigen Messenger ein, um die kontinuierliche Kommunikation zu den Familien sicherzustellen.

„Auch die soziale Komponente, die in Zeiten von Corona weggebrochen ist, konnten wir im digitalen Klassenzimmer auffangen. Das war unheimlich wertvoll“, sagt Lehrerin Daniela Schäfer. Engagiert arbeitet das Kollegium daran, die Beziehungen digital zu pflegen. So organisiert die Grundschule am Dichterviertel digitale Pyjama-Partys und initiiert die beliebte „Freundschaftsbank“. Kinder, die sich allein fühlen, können sich in diesem digitalen Raum einfinden, und andere Kinder gesellen sich zu ihnen. Mittels Live-Kameras nahmen die Schülerinnen und Schüler an digitalen Führungen durch Zoos auf der ganzen Welt teil oder besuchten ein Planetarium. Damit gelingt es Nicola Küppers und ihrem Team, die Kinder wenigstens virtuell aus ihrer häuslichen Enge zu holen: „Wenn die Kinder die Welt nicht erreichen, holen wir die Welt in die Schule.“