Porträt

An der Max-Brauer-Schule lernen die Grundschüler seit zwanzig Jahren in einem ihnen gemäßen Lerntempo. Für die älteren Schüler wurde die Profiloberstufe eingeführt. Die Schüler wählen nicht mehr einzelne Kurse, sondern Fächerpakete, zum Beispiel „Sprache und Kultur“.

Die Schule ist eine Baustelle: Im Klassenraum der 6b stehen rot-weiße Warnschilder, an einigen selbst gezimmerten Latten hängen Bauhelme. Symbole – denn nicht das Gebäude der Max-Brauer-Gesamtschule wird umgebaut, sondern der Unterricht: In der fünften und sechsten Klasse gibt es keine Einteilung in Fächer mehr, keine Hausaufgaben, keine Klassenarbeiten und keine Zensuren.

„Wir lernen hier im Lernbüro“, erklärt Niclas. Der Elfjährige arbeitet an seinem Naturtagebuch. Zusammen mit Marcell hat er tagelang Mehlwürmer beobachtet. Die beiden Jungs wollen wissen: Wie verhalten sie sich? Was fressen die? „Sie verteilen sich und kommen zusammen, wenn es dunkel wird“, sagt Niclas. Die braunen Würmer ernähren sich vor allem von Holz, aber am liebsten mögen sie Haferflocken. „Sie haben keine Wirbel und sind ungefähr so eiweißhaltig wie Scampis“, erklärt er. Zwei Tische weiter schreibt Johnny einen Vortrag über das physikalische Phänomen des Auftriebs, Jakob arbeitet am Computer in der Leseecke.

Was die Schüler in Mathe, Deutsch oder Englisch lernen, entscheiden sie selbst. Dazu stellt Klassenlehrerin Inge Feddersen mit jedem ihrer 23 Schüler einen Wochenplan auf. Zu Beginn des „Lernbüros“ besprechen sie, woran sie heute arbeiten wollen und tragen es in ihr „Blaues Buch“ ein. Hannah hat sich vorgenommen: „Ich will mit Özgen in die Pausenhalle gehen und Englisch machen.“ Die beiden Mädchen wollen Text-Aufgaben im Englisch-Workbook lösen und Vokabeln lernen. In der Pausenhalle können sie ungestört miteinander reden, denn im Lernbüro darf nur geflüstert werden.

Inge Feddersen sitzt vorn am Pult und spricht leise mit Sophie. Die Elfjährige hat zu Beginn der Stunde ihr Namensschild an die Tafel geheftet, das heißt, dass sie etwas mit ihrer Lehrerin besprechen möchte. „Bei dieser Art von Unterricht lerne ich meine Schüler viel besser kennen, das genieße ich sehr“, sagt Inge Feddersen, 56. Denn sie hat Zeit für jeden einzelnen. Der Unterricht endet nicht mehr automatisch nach 45 Minuten, und die Schule geht bis 16 Uhr. „Ich finde es gut, dass die Lehrer an unserer Schule nicht so unter Zeitdruck stehen“, sagt die elfjährige Nele. „Und ich merke gar nicht, wie schnell der Tag vergeht, weil es so viel Spaß macht.“

Früher wusste Inge Feddersen nicht, wie viel von dem Stoff bei ihren Schülern ankommt, heute sieht sie es genau. Ihre Fortschritte werden auf „Kompetenzrastern“ festgehalten, die auf den Lehrplänen für Mathe, Deutsch und Englisch basieren. Auf den Zetteln, die am Platz eines jeden Schülers hängen, ist im Detail beschrieben, was er oder sie im Laufe eines Schuljahres lernen soll. Bei Mathe steht zum Beispiel: „Ich kenne die Maßeinheit der Fläche und kann rechteckige und daraus zusammengesetzte Flächeninhalte berechnen.“ In Deutsch heißt ein Ziel für Grammatik: „Ich kenne die grundlegenden Bestandteile eines Satzes. Ich kenne Konjunktionen und kann mit ihnen einfache Satzgefüge bilden.“ Für erledigte Aufgaben gibt es einen grünen Punkt. Ist das Feld abgearbeitet, schreibt der Schüler einen Test und bekommt einen dicken roten Punkt. Lehrerin Feddersen achtet darauf, dass die Schüler kein Fach vernachlässigen.

Hannah hat viele Punkte in Deutsch, aber noch einige leere Felder in Mathe. Deshalb hat sie in ihr „Blaues Buch“ als Wochenziel geschrieben: „Ich will das Umwandeln von den Maßen lernen.“ Bei Inge Feddersen hat sie einen so genannten „runden Tisch“ beantragt: Gemeinsam mit vier bis fünf Mitschülern möchte Hannah die Umrechnung von Dezimetern in Meter wiederholen. „Einige Kinder arbeiten jetzt noch Teile des Stoffs aus der fünften Klasse auf, andere zum Teil schon in Bereichen für die siebte Klasse“, erklärt die Lehrerin.

An der Max-Brauer-Schule sollen die Schüler von der ersten Klasse an Verantwortung für ihr Lernen übernehmen. „Wir haben uns vor langer Zeit vom Gleichschritt verabschiedet“, sagt Schulleiterin Barbara Riekmann, 57. An der Max-Brauer-Schule lernen die Grundschüler seit zwanzig Jahren in einem ihnen gemäßen Lerntempo. Für die älteren Schüler wurde die Profiloberstufe eingeführt. Die Schüler wählen nicht mehr einzelne Kurse, sondern Fächerpakete, zum Beispiel „Sprache und Kultur“. Dazu belegen sie Leistungskurse in Englisch und Geschichte, außerdem Grundkurse in Musik und Religion. Die vier Fachlehrer richten ihren Unterricht auf ein Oberthema pro Semester aus, zum Beispiel „Jugendwelten“.

Nach und nach sollen alle Stufen bis Klasse zehn so lernen wie die 6b: im Lernbüro (zehn Stunden pro Woche), in Projekten (zwölf Stunden) und Werkstätten (acht Stunden). Während der Werkstattzeit sollen die Schüler selbst forschen und praxisorientiert lernen, zum Beispiel ein Blasinstrument, sie können auch Theater spielen oder in Chemie experimentieren.

Seit sechs Wochen arbeitet die Klasse 6b an ihrem Projekt über die Elbinsel Pagensand. Das Thema zieht sich durch alle Fächer. Grundlage ist das Jugendbuch von Uwe Timm: „Der Schatz auf Pagensand“. In Kunst basteln die Schüler Strandcollagen, in Physik lernen sie den Umgang mit dem Kompass, Sternzeichen und nautische Grundbegriffe, und in Biologie die Fische in der Elbe kennen. Die Max-Brauer-Schule liegt in Hamburg-Altona, nicht die allerbeste Adresse für Hanseaten: ein Stadtteil mit vielen Ausländern und Arbeitslosen. Für 26 Prozent der 1219 Schüler ist Deutsch nicht die Muttersprache. Hier sitzt eine Arzttochter neben dem Sohn eines Flüchtlings. In der 6b haben acht von 23 Kindern Eltern, die nicht aus Deutschland stammen. Schulleiterin Barbara Riekmann findet das gut: „Diese Vielfalt ist eine Bereicherung.“

Özgen und Hannah stecken die Köpfe zusammen – ein schwarzer und blonder. Seit einer halben Stunde sitzen sie allein in einer Nische der Pausenhalle. Während sie über den Aufgaben im englischen Workbook brüten und darüber, was „Ich suche“ heißt, scheppert es. Wagen mit großen, heißen Schüsseln werden durch die Halle gefahren, das Küchen personal ruft sich Kommandos zu – gleich gibt es Mittagessen. Die beiden Mädchen lassen sich davon nicht stören. Özgen hat die richtige Seite mit den Vokabeln gefunden: „to look for“, heißt „suchen nach“. „Looking forward“, bedeutet, „sich auf etwas freuen“, liest sie weiter.

Die ganze Schule freut sich auf die Verleihung des Deutschen Schulpreises. „Der Preis ist eine Anerkennung für unsere Arbeit. Wir sind stolz darauf, unter den ersten fünf zu sein“, sagt Schulleiterin Riekmann. Und mit den 10.000 Euro Preisgeld kann sie ihre Schule weiter umbauen.

Ingrid Eißele