Porträt

Die 8c hat Englisch, aber kaum einen Schüler hält es länger als zwei Minuten auf seinem Platz. Ständig steht einer auf, geht durch den Raum, setzt sich wieder. Was man für ein heilloses Durcheinander halten könnte, ist tatsächlich eine äußerst produktive Form der Gruppenarbeit. Vor der Tafel steht Englischlehrerin Eva Caemmerer und lächelt zufrieden. Ihre Schüler haben Lückentexte über „Pocahontas" erhalten. Bilder, Schreibmaschinentexte und Plakate – im ganzen Raum und an den Wänden verteilt – veranschaulichen die Geschichte der Häuptlingstochter. Jetzt suchen sie sich die fehlenden Passagen zusammen. Das heißt: ein paar Schritte gehen, einen oder zwei Sätze lesen, auf dem Weg zurück zum Platz im Kopf wiederholen – und schließlich im Lückentext ergänzen.

Die Realschule am Europakanal in Erlangen hat viele Wege gefunden, Lernen mit Bewegung zu verknüpfen. Kleine Trainingseinheiten lockern den Unterricht auf und immer öfter joggen Schüler und Lehrer in der Pause ein paar Runden um den Schulhof. „Und wir wollen noch mehr Bewegung", sagt Schulleiter Ulrich Knoll. Den Anfang machen die Achtklässler. Für sie ist neuerdings ein kleines Aerobic-Programm vor jeder Klausur Pflicht. Die Schüler stehen hierbei im Mittelpunkt einer Studie des Zentrums für Neurowissenschaften (ZNL) in Ulm. Das Institut will herausfinden, ob Gymnastik die Prüfungsergebnisse beeinflusst. Denn alles spricht dafür, dass das Gehirn nach ein bisschen Sport besser arbeitet. „Jeder weiß, dass Kinder und Jugendliche sich zu wenig bewegen", sagt Ulrich Knoll. „Es ist Zeit, endlich was daran zu ändern."

„In Bewegung sein" will die Realschule am Europakanal, und das nicht nur sportlich gesehen. „Wir sind offen für neue Ideen aus allen Bereichen", sagt Knoll. Nicht nur die Jungen und Mädchen sollen etwas in seiner Schule lernen. Die Schule soll auch etwas von ihnen lernen. Deshalb wünscht er sich Lehrer, die sensibel für die Wünsche der Schüler sind – und aus ihren Beobachtungen neue Konzepte schmieden. „Wir brauchen Leute mit Ideen", sagt der Rektor. Beispiel: Prüfungen. „Früher wurde in den Klausuren sehr viel Wissen abgefragt", erzählt Johannes Offinger, der Englisch und Geschichte unterrichtet. „Und dann gab es noch die unangekündigten Tests". Beides habe den Schülern eher Angst als Lust aufs Lernen gemacht. Sein Vorschlag: acht Leistungsnachweise mittleren Umfangs einführen. „Das entlastet die Schüler, weil sie regelmäßiger lernen müssen, aber nicht so viel auf einmal", sagt Offinger.

Seine Idee ließ die Schüler jubeln – und überzeugte schnell auch Kollegen, Schulleitung und Eltern. Ein halbes Jahr, nachdem Offinger seine Idee zum ersten Mal vorgetragen hatte, krempelte die Schule die Prüfungsstruktur im Fach Englisch um. Mittlerweile ziehen andere Fachschaften nach. Jeden Freitag treffen sich alle Lehrer zur wöchentlichen Gesprächsrunde über alle anstehenden Entscheidungen. Ein Teil sitzt in der „Steuergruppe", Teilnahme: freiwillig. Sie ist, so Knoll, der „Motor der Veränderung, von ihr gehen die Impulse für Neuerungen aus."

Wie im Fall des Doppelstunden-Prinzips. Weil am Anfang und am Ende jeder Stunde immer Zeit verloren ging, führte die Schule kurzerhand Doppelstunden in allen Jahrgängen und Fächern ein. „So wird ein Unterricht möglich, in dem die Schüler sich aktiv neuen Stoff erarbeiten", sagt Schulleiter Knoll. Ein Erfolg, der sich in Zahlen messen lässt: Etwa die Hälfte der Absolventen wechselt auf Fachoberschule oder Gymnasium, alle anderen beginnen entweder eine Ausbildung oder absolvieren ein „Freiwilliges Soziales Jahr". Seit einigen Jahren steigen die Bewerberzahlen kontinuierlich. Ursprünglich für 600 Schüler ausgelegt werden hier heute über 900 Jungen und Mädchen unterrichtet. Möglich ist das, weil die Schule vor drei Jahren zu einer weiteren radikalen Veränderung bereit war: Sie wandelte alle Klassen- in Fachräume um. So können die Räume besser genutzt und mehr Schüler aufgenommen werden. Praktisch an den Fachräumen ist zudem, dass die Schüler hier stets das benötigte Material vorfinden.

Aber: Wo es keine Klassenräume mehr gibt, kann auch das Gefühl von Zugehörigkeit verloren gehen. „Wir mussten uns dem Raumproblem stellen und wollten gleichzeitig, dass die Schüler sich hier wohlfühlen", sagt Knoll. Wie also karge Fachräume heimeliger machen? Indem alle angepackt haben: Schüler, Eltern und Lehrer, mit Pinsel, Schere, Quast und Kleister. Heute wachen über den Geschichtsraum zwei lebensgroße Porträts von Legionären, den Deutschraum zieren Buchrücken wie in einer Bibliothek. Der Kunstraum – rote Tapete, Kronleuchter und ein thronartiger Sessel für den Lehrer – erinnert an einen Prunksaal. „Wir begreifen Schule nicht nur als Lernort, sondern auch als Lebensraum", sagt Schulleiter Knoll. Ein Prinzip, das sich auch in den Fluren und Treppenhäusern und selbst auf dem Schulhof wiederfindet: An den Wänden hängen großformatige Gemälde, in der Aula funkelt ein riesiges Spiegelmosaik und der Asphalt um den Basketballkorb leuchtet in bunten Farben. Wo man hinsieht, schmücken Skulpturen, Schaukästen und Sinnsprüche den grauen Funktionsbau.

Doch der ästhetische Aspekt ist nur ein Grund für die vielen Kunstwerke. Den anderen nennt Knoll die „Lobkultur". Das Gebäude zu einer großen Galerie zu machen, bedeute auch, den Schülern Platz zu geben, um ihr Schaffen zu präsentieren: Im Foyer zeigt ein Flachbildschirm an der Wand Dias von Technikprojekten oder Klassenausflügen. In Glaskästen findet man alles über Austauschprojekte mit Partnerschulen in Frankreich, Polen, China und in der Türkei. Knoll, der schon in Paris und Delhi Schulleiter war, legt viel Wert auf die Zusammenarbeit mit Schulen auf der ganzen Welt. „Das fördert die Toleranz", sagt er. Als er auf die goldenen Barockrahmen zeigt, in denen die „Schüler des Monats" geehrt werden, hält der Schulleiter für einen Moment inne: „Es gab Stimmen, die diese Form des Wettbewerbs unter Schülern skeptisch sahen", sagt er. „Ausprobieren wollten wir es trotzdem." Heute zeige sich, dass die Auszeichnung nicht für Neid oder Häme sorge. Ganz im Gegenteil: „Die Schüler sehen das ganz gelassen – finden es cool", sagt Knoll. Ein positiver Wettstreit ist entstanden.

Die Jahrgänge 8 bis 10 betreiben das Schülercafé weitgehend in Eigenregie. Seit kurzem bieten sie hier sogar ein „Müslifrühstück" an und stehen dafür eine Stunde früher auf. Ein anderes Team ist in der Schulbücherei eingeteilt. Ein Sanitätsdienst, bestehend aus einer Lehrerin und Schülern ab Jahrgang 6 mit Erste-Hilfe-Schein, steht bei Notfällen bereit. Und rund 30 Schüler besuchen ein Jahr lang jede Woche für zwei Stunden soziale Einrichtungen wie Seniorenheime oder Kindergärten. Sie plaudern mit den älteren Menschen oder spielen mit den Kindern. Schülerparlament, Theatergruppe, Anti-Mobbing-Tag – die Liste der Projekte ist lang.

In der 8c rufen die ersten Schüler: „Fertig!" Sie haben ihren Lückentext über „Pocahontas" ergänzt und wollen die Ergebnisse vergleichen. Andere sind noch auf der Suche nach den fehlenden Wörtern. In Zukunft will die Schule noch stärker die Begabungen der einzelnen Schüler im Unterricht berücksichtigen. Ein Schritt in diese Richtung sind die „Profilklassen", die zum Schuljahr 2009/2010 in Klasse fünf eingeführt wurden: Eine Bläser-, eine Technik-, eine Sportklasse sowie eine Ganztagesklasse mit Schwerpunkt Kunsterziehung. Zwei Stunden pro Woche sollen sich die Schüler ihrem Profil widmen. Das ist ein Anfang, aber Leitung und Kollegium ist klar: Der Unterricht muss noch mehr auf die Stärken und Schwächen des Einzelnen Rücksicht nehmen. „An keiner Schule läuft alles perfekt, auch bei uns nicht", sagt Schulleiter Knoll. „Aber wir scheuen uns nicht vor Veränderungen."

Mathias Becker