Porträt

Durch die Eingangstür der Waldparkschule in Heidelberg schlurft ein Junge, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. "Tim*, he Tim*", ruft Schulleiter Thilo Engelhardt. "Wenn man reinkommt, nimmt man die Kapuze ab." Ordnung, Struktur und Regeln sind wichtig in dieser Schule. Dazu gehört eine Kleiderordnung und dass keiner ohne Aufsicht durch die Flure streift.

Engelhardt steht in der Aula, die sich kurz vor acht mit Leben füllt. Sie ist das Herz der Schule. Hier sammeln sich die Kinder vor Unterrichtsbeginn an Tischen, die wie kleine Inseln über die Halle verstreut sind. Eine Gruppe Zweitklässlerinnen wartet schnatternd auf den Lehrer, der sie zum Klassenzimmer eskortieren wird. Die älteren Schülerinnen und Schüler haben einen flexiblen Beginn, sie können die Zeit bis halb neun für Nacharbeit nutzen - oder fürs Coaching.

Dorthin ist Amira*, ein Tuch mit glitzerndem Strass um den Kopf geschlungen, unterwegs. An einem der Tische wartet ihre Lehrerin auf sie. "Wie war dein Wochenende?", fragt Liliana Gassi-Betsch, während die 14-Jährige verschiedene Ordner aus ihrer Tasche zieht. Gassi-Betsch studiert die Arbeiten ihrer Schülerin aus der Siebten. "Bei den Vokabeln in Englisch wirst du immer besser", lobt sie. "Ich habe auch sehr viel geübt", erwidert Amira* stolz. Alle zwei Wochen spricht sie mit der Lehrerin über ihre Leistungen. Gemeinsam überlegen sie, was besser laufen könnte. Das individuelle Coaching, das jeder Schülerin und jedem Schüler zusteht, soll beim Lernen unterstützen und gleichzeitig motivieren. "Ich freue mich immer richtig auf das Feedback", sagt das Mädchen. Amira* sei regelrecht aufgeblüht, seit sie auf diese Schule gewechselt ist, sagt Rektor Engelhardt. "Wir geben viele Anregungen, wie Schüler selbständig arbeiten können, aber wenn es nicht funktioniert, ist gleich eine Rückmeldung da."

Ein Viertel der Schülerinnen und Schüler hat einen Migrationshintergrund

Schon auf den ersten Blick wird die Waldparkschule ihrem Namen gerecht. Sie liegt abseits des Heidelberger Stadtkerns auf dem Boxberg. In den Wipfeln ringsum zwitschern Vögel, die Straßen der Umgebung heißen Haselnussweg, Im Eichwald und Buchwaldweg. Doch nirgendwo im Stadtgebiet leben mehr alleinerziehende Mütter. Das benachbarte Emmertsgrund gehört zu den sozialen Brennpunkten. Ein Viertel der Schülerinnen und Schüler hat einen Migrationshintergrund, viele stammen aus sozial schwachen Familien. Wer es vermeiden konnte, schickte sein Kind nicht hinauf auf den Berg. Zuletzt besuchten nur noch knapp 200 Kinder die Schule, ganze Gebäudeteile waren verwaist.

"Die Leute stellten sich vor, dass hier jeder rappt und nachts die Mülltonnen brennen", sagt Engelhardt. Die Schule war verschrien und stand vor der Schließung. Aufwärts geht es, seitdem sie 2013 zu einer Gemeinschaftsschule wurde. Inzwischen hat sich die Schülerzahl mehr als verdoppelt, und am Tag der offenen Tür fragen selbst Eltern aus dem Tal, ob sie noch einen Platz für den Nachwuchs bekommen. Gelungen ist der Imagewandel, weil das Kollegium den Unterricht komplett umgekrempelt hat. Es sprach sich schnell herum, dass jedes Kind individuell gefördert wird und dass es auch Projekte außerhalb des täglichen Schulbetriebs gibt, zum Beispiel mit dem Kunstverein und Theater. Die Lehrkräfte schwärmten aus, um sich andernorts Anregungen zu holen. Noch immer wird viel ausprobiert und bewertet, verbessert oder fallengelassen. "Das ist eine gallische Dorfmentalität, wir ziehen unser eigenes Ding durch", sagt Engelhardt. Chaos wird mit strukturierten Abläufen begegnet. Einer der ersten Schritte, um Ruhe in die Klassen zu bringen: Sie zerrten die Tische auseinander.

Heute haben alle Schülerinnen und Schüler eine Art kleines Büro: ein einzeln stehender Tisch, abgeschirmt vom Nachbarn durch ein kopfhohes Regal für Bücher und Unterlagen. Amira* hat sich nach dem Coaching inzwischen an ihrem Tisch über einen Text gebeugt, bei dem sie deutsche Personalpronomen bestimmen soll. Hanna* gegenüber knobelt an der Berechnung eines Kreisdurchmessers, Max* brütet über Englischvokabeln. Ein Schild an der Tür verkündet, dass Lernzeit ist: "Bitte nicht stören! Falls doch: Bitte flüstern!" Zwei Schulstunden am Tag bearbeiten die Schülerinnen und Schüler Aufgaben aus den Hauptfächern, im eigenen Tempo und auf verschiedenen Niveaustufen.

"Hier gefällt es mir besser als auf meiner alten Schule", sagt Amira*. "Wenn ein Lehrer vorne steht und man immer nur zuhören muss, vergeht einem schnell die Lust." Montags plant sie die Freiarbeit in ihrem Lerntagebuch. Dabei muss sie einschätzen, wie weit sie mit ihrem Pensum an einem Tag kommt. Später hakt sie ab, was sie geschafft hat, und bewertet sich selbst mit ein bis drei lachenden Gesichtern. "Für die letzte Woche würde ich mir im Schnitt zwei Smileys geben." Der Planer dient ihr, aber auch den Lerncoachs und Eltern zur Leistungskontrolle. Sie müssen regelmäßig unterschreiben. Weil während der Lernzeit immer irgendwo getuschelt wird, versuchen die Lehrer, den Geräuschpegel zu senken, indem sie die Klasse aufteilen. Während Amira* in ihrem Mini-Büro arbeitet, haben sich Mitschüler in den Raum für Gruppenarbeit zurückgezogen.

"Wenn wir Hilfe brauchen, können wir ja fragen"

Vier Mädchen haben den Ausweis für die Aula ergattert, der ihnen erlaubt, dort zu lernen. Wie an ihrer Schule unterrichtet wird, finden sie gut. "Die Lernpakete sind extra so gemacht, dass jeder in seinem Tempo lernen kann", sagt Sophie*. "Wenn wir Hilfe brauchen, können wir ja fragen", meint Leonie*. Nur eines findet sie manchmal doof: Es gibt keine Noten. "Manchmal würde das helfen, sich besser einzuschätzen."

An der Waldparkschule bleibt niemand sitzen, keiner fällt durch eine Prüfung. Anstelle von Noten gibt es schriftliche Beurteilungen. "Ich glaube nicht, dass die Schüler einen Nachteil haben, weil Noten und Leistungsdruck fehlen", sagt Steffi Groh. Die Vorsitzende des Elternbeirats hat einen Sohn in der 7. Klasse. Ursprünglich wollte sie ihn auf die Realschule schicken, doch das Konzept der Gemeinschaftsschule gefiel ihr besser. "Die Lehrer kümmern sich um jedes Kind, der Austausch funktioniert prima."

Die Schulglocke hat die Mädchen schon aus der Aula getrieben, als Louis*, Finn* und Justin* ihre Runde antreten. Sie sind mit langen Greifzangen bewaffnet und stromern damit durch die Halle, klauben Bonbonpapiere, Plastikfetzen, Brotstückchen auf. "He, da liegt noch überall was", ruft Justin*, als Louis* in Richtung Tür strebt, um sich den Schulhof vorzunehmen. Müllsammeln ist keine Strafe, sondern eine Aufgabe, die alle Schülerinnen und Schüler regelmäßig übernehmen. Genauso gibt es in jeder Klasse einen Tafeldienst, jemanden, der die Pflanzen gießt, das Klassenzimmer fegt oder regelmäßig lüftet. In einem Klassenrat versuchen sie, Probleme selbst zu lösen. Die Lehrkräfte greifen höchstens als Moderatoren ein. Amira* lässt sich gerade zur Streitschlichterin ausbilden. Auch das ist Teil des Konzepts. Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Jeder wird als Teil der Schule wahrgenommen und jeder sieht sich als Teil der Schule - das trägt dazu bei, dass Harmonie und nicht mehr Aggression den Umgang bestimmt.

"Wir vermitteln vielleicht etwas weniger Stoff als andere Schulen", sagt Schulleiter Engelhardt. "Dafür vertiefen wir mehr und erziehen zum selbständigen Denken und Arbeiten."

* alle Schülernamen von der Redaktion geändert