Porträt

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Ein Gymnasium, an dem die Mehrheit der Schüler Migranten sind – eine Utopie in Deutschland? Irrtum.

So hatte sich Robin die neue Schule nicht vorgestellt. Völlig verunsichert kam er nach dem ersten Schultag nach Hause. In seiner fünften Klasse waren er und ein Klassenkamerad die einzigen deutschen Schüler. Einen „Kulturschock" attestierte ihm Schulleiter Bernd Knorreck. Am zweiten Tag weigerte sich der Junge, in die Schule zu gehen. Da fühle er sich fremd. Sieben von zehn Schülern an seiner Schule sind mit einer anderen Muttersprache aufgewachsen: Türkisch, Russisch, Polnisch, Arabisch, Bengalisch, Afghanisch, Finnisch, Ovambo, Lingala, Urdu. Robin fühlte sich wie auf einem anderen Planeten. Die Eltern ermutigten ihn durchzuhalten. Sein Vater, Ingenieur bei Siemens, und die Mutter, gelernte Goldschmiedin, hatten sich bewusst für die Schule im Südwesten Kölns entschieden, obgleich es Alternativen gab, die näher lagen. Er solle es noch eine Woche versuchen, bat ihn sein Vater, er arbeite schließlich auch mit ausländischen Kollegen zusammen. Inzwischen besucht Robin die sechste Klasse. Zu seinen besten Freunden zählt Kotaro aus Japan. Robins Urteil heute: „Eigentlich ist es bei uns egal, woher einer stammt."

Klingt fast zu schön, um wahr zu sein, erst recht, wenn man die Gegend kennt, in der die Schule liegt: Köln-Mülheim, ehemaliges Arbeiterviertel, gleich um die Ecke die Keupstraße, „Klein-Istanbul" genannt, in der es kaum noch deutsche Geschäfte gibt. Etwa ein Drittel der Schüler lebt von Hartz IV. Eltern der Mittelschicht machen seit Jahren einen Bogen um diese Schule. Selbst unter Migranten gibt es Vorbehalte. Schülerin Fatima, 15, und ihre Eltern bekamen vor einigen Jahren noch zu hören, die Tochter solle doch besser das Hölderlin-Gymnasium besuchen, statt diese „asoziale Schule mit den vielen Ausländern".

Aus dem einstigen Mädchengymnasium wurde in den Neunziger Jahren eine Ganztagsschule vor allem für Zuwanderer. „Erst kam die polnische, dann die russische, dann die türkische Welle", sagt Knorreck, der 2005 die Leitung der Schule übernahm. Er selbst kam aus dem Stadtteil Lindental, „wo die Professoren leben", und Eltern viel Geld für Nachhilfeunterricht investieren. Nur den wenigsten Genoveva-Schülern wird derart geholfen. Umso erstaunlicher, dass sie im Zentralabitur ebenso gut abschneiden wie Abiturienten in bürgerlichen Stadtteilen. „Konsequent, hochprofessionell und höchst wirksam", so die Jury des Deutschen Schulpreises, setze das Gymnasium um, was Bildungsreformer seit Jahren fordern, nämlich endlich das Potenzial von Einwandererkindern zu nutzen, die in vielen deutschen Großstädten zwar schon die Mehrheit ihrer Generation stellen, aber überproportional häufig auf Hauptschulen landen.

Das Motto des Genoveva: „Alle reden von Integration. Wir machen sie." Mit der Sprache fängt alles an. Ohne sehr gute Deutschkenntnisse kein Abitur, das weiß am „Geno" jedes Kind. Trotzdem werden selbst Kinder, die kein Wort Deutsch sprechen, aufgenommen, sofern sie den Aufnahmetest in Englisch und in ihrer Muttersprache bestanden haben. Danach lernen sie Deutsch in Intensivkursen bei speziell ausgebildeten Lehrern. So wie die 15-jährige Kaja aus Polen, die 12-jährige Anastasia aus Russland oder die 11-jährige Viktoriya aus Bulgarien, die erst seit wenigen Monaten in Deutschland leben. Regina Beckmann unterrichtet die kleine Gruppe in der Mittagszeit, während andere schon in der Mensa sitzen. Die Lehrerin hat Küchengeräte als Anschauungsobjekte mitgebracht. „Schüssel", schreibt ein Mädchen an die Tafel. Regina Beckmann erklärt nicht nur die Schreibweise, sondern auch die Rechtschreibregel dazu. Ihre Schüler lernen schnell und zielstrebig. Immerhin ein Fünftel der Genoveva-Schüler, besonders jene aus Osteuropa, hat Akademikereltern – darunter Ingenieure und Ärzte, die wissen, wie wichtig das Abitur für ihre Kinder ist.

Nach ein paar Monaten beherrschen solche ehrgeizigen Seiteneinsteiger genug Deutsch, um dem Unterricht folgen zu können. Daneben gibt es auch am Genoveva Schüler, die in einer Parallelwelt aufwachsen. Es gehe nicht darum, Migranten die deutsche Kultur aufzuzwängen, betont der Schulleiter. Aber ein paar „harte Regeln" müssen sein: Pünktlichkeit und Disziplin, gegenseitiger Respekt und Solidarität sind Pflicht. Wer seine Mitschüler notorisch stört, kommt in den „Trainingsraum", wo er allein, unter Aufsicht eines Lehrers, arbeiten muss. Eltern verpflichten sich schriftlich, dass ihr Kind an Klassenfahrten und am Schwimmunterricht teilnehmen darf. Zugleich werden Kompetenzen der Schüler wichtig genommen. Türkisch kann als Prüfungsfach im Abitur gewählt werden. Statt einer Weihnachtsfeier gibt es ein „Winterfest", die Schüler gehen durch Räume, die von Mitschülern mit Symbolen jüdischer, christlicher und muslimischer Feiertage ausgeschmückt wurden.

In Klasse sieben sprechen fast alle sehr gut deutsch. Das ist notwendig, wenn man Sinn und Form von Heines Ballade „Belsazar" ergründen will. „Der König stieren Blicks da saß, mit schlotternden Knien und totenblass", rezitiert Medine. Die Mitschüler sollen „coachen" und Tipps für den besseren Vortrag geben. Marice trägt das „Heideröslein" vor. „Du hast Takt, Metrum und Betonung eingehalten", loben die Klassenkameraden. „Aber sprich noch einen Tick lauter." Leistungsbereitschaft verlangt auch Tanzpädagogin Sarah Schuhmacher. Tanz ist für die Ganztagsschüler am Genoveva bis Klasse neun Pflichtfach. An diesem Morgen studiert sie mit elf Mädchen und fünf Jungen der siebten Klasse eine neue Technik ein. „Klarer Blick, stolzer Rücken! Hände aus den Hosentaschen, Fliegerdrehung, hopp!" Schuhmacher, schlank und durchtrainiert, tanzt die Bewegungen vor. Die meisten Mädchen machen sie mühelos nach, doch einige Jungs stehen sichtlich neben sich. Die Arme von Emrah hängen schlaff wie die Zweige einer Trauerweide. „In wenigen Wochen", ermahnt Sarah Schuhmacher, „habt ihr einen öffentlichen Auftritt!" „Was?" klingt es aus der Klasse.

Die Schüler lernen Schritt für Schritt, Verantwortung für ihr Stück zu übernehmen. „Du stehst – du gehst – du entscheidest!", ermuntert die Lehrerin ihre Schülerin Medine. Und gleich darauf Emrah: „Du führst die Klasse an." Emrah steht jetzt vorn. Ein Ruck geht durch seinen Rücken – und auf einmal fließen seine Bewegungen.

Tanz funktioniert, wenn Sprache noch nicht funktioniert, erklärt die Tanzpädagogin. Tanz sei ein Ventil für Emotionen, sorge für ein besseres Miteinander, sogar für bessere Noten. Schülerin Laura, 14, sagt: „Beim Tanz muss man sich vertrauen." Egal, woher einer stammt.

Solche Angebote machen die Schule auch für deutsche Schüler attraktiv. Aber das allein würde nicht reichen, wenn das Engagement der Lehrer nicht wäre. „Man darf sie fragen, man darf auch mal etwas nicht verstanden haben", beobachtet Robins Mutter. „Diese Lehrer mögen Kinder." Folge: Aus Robins Angstfach Mathe wurde sein Lieblingsfach. Schon am dritten Tag fand Robin seine Mitschüler „witzig". Den besten Beweis, dass die Entscheidung für diese Schule richtig war, liefert er seiner Mutter seitdem auch ohne Worte: „Er kommt jeden Tag gut gelaunt aus der Schule."

Ingrid Eißele

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Am Anfang ist das Wort. Nur will es erstmal nicht heraus. Dennis schielt den Bleistift vor sich an, schnippt einen Krümel vom Tisch. Eigentlich soll die Tischgruppe hinten links, sollen die vier Schüler hier im Klassenraum der 7b, argumentieren üben. Doch das Thema „Ist Lesen nicht mehr trendy?" trifft wohl nicht Dennis’ Nerv. Lustlos wippt er auf seinem Stuhl. Da horcht er auf. „Ist doch viel zu anstrengend, ein Buch aufzuschlagen", grinst ihn Maik an. „Im Internet gibt es Filme über alles." Dennis gibt sich einen Ruck. „Ach", sagt er gedehnt und beugt sich vor, „zum Anklicken solcher Filme musst du also nicht lesen können?"

So also läuft der Deutschunterricht an der gebundenen Ganztagsschule Johannes Gutenberg in Wolmirstedt. In festen Tischgruppen lernen die Schüler, nach dem Prinzip der Leistungsheterogenität zusammengesetzt. Und heute ist es der lernschwache Maik, der Klassenprimus Dennis aus seiner Lethargie reißt. Im Stakkato schreiben beide nun gemeinsam mit ihren Mitschülerinnen Petra und Nicole Argumente auf. Den Pausenruf überhören sie nahezu. Rektor Helmut Thiel lächelt. „Schule heißt für uns, dass wir uns alle gemeinsam weiterbilden – Schüler und Lehrer, als würden wir in einem Feuer die Flammen hochpusten". In der Gutenbergschule in Wolmirstedt, 15 Kilometer nördlich von Magdeburg, lodert es gewaltig.

Eine beeindruckende Entwicklung hat die ehemalige Polytechnische Oberschule „Wladimir Iljitsch Lenin" hingelegt. 1981 wurde sie erbaut, seit 1985 stand Thiel ihr vor. Dem Mauerfall folgte eine „tolle Zeit", erinnert sich Thiel, als er den in hellen Pastellfarben getauchten Schulflur entlangschreitet. „Bis 1991 besuchten wir zig Schulen, suchten kreative Ideen." Den sich aufdrängenden Problemen – Rückgang der Schülerzahlen, Erschütterung der Sozialstrukturen – begegnete die Schule mit dem Versuch, stetig ihre Qualität zu verbessern. Thiel sagt es etwas trocken: „Wir analysieren halt und suchen dann nach Lösungen." Die Gutenberger machten sich auf einen Weg, dessen Ende auch heute nicht absehbar ist. Sie stellten sich im Laufe der Jahre externen Überprüfungen, luden Experten ein, setzten Anregungen um. Mit Erfolg: Längst nicht alle gemeldeten Kinder kann sie aufnehmen. Über 90 Prozent der Schüler erreichen einen Realschulabschluss. Zwanzig Prozent der Abgänger wechseln aufs Gymnasium, nur zwei Schüler haben seit 1996 dort keinen Abschluss geschafft. Und die PISA Lernergebnisse zeigen die Schule im Trend der Landesgymnasien. Einen Grund für die guten Schülerleistungen sieht Thiel in einer Neuerung seit 2006: dem Selbstorganisierten Lernen (SOL).

Am lautesten an diesem SOL ist die Stille. Wie vertieft die Schüler an ihren Aufgaben sitzen, wie bei einer Klausur – nur viel entspannter. Sarah, 12, zieht einen Knopfhörer aus dem rechten Ohr. „Ich konnte die Klasse überzeugen, dass ich bei Musik besser lerne", sagt sie, geht an die Tafel. „Weiß jemand, was 'my hobby by heart' heißt?", schreibt sie mit Kreide. Nach einer halben Minute setzt ihr Mitschüler Sascha die Antwort darunter. SOL findet statt zur Primetime, jeden Tag in der dritten und vierten Stunde, ein Filetstück im Stundenplan bei allgemein höchster kognitiver Leistungsfähigkeit. „Wir merken, wie die Lernleistung insgesamt durch das SOL gestiegen ist", flüstert Thiel. In den 90 Minuten setzen sich die Schüler an Pflichtaufgaben aus allen Fächern. Zusätzlichen Wahlaufgaben stellen sie sich selbst und wählen dabei den Schwierigkeitsgrad. In einem Lernplaner, einem grünen Büchlein, dokumentiert jeder seinen Lernfortschritt.

Draußen auf dem Flur geht das selbstorganisierte Lernen weiter. Tische stehen neben Gummibäumen und Yuccapalmen, an ihnen emsiges Lernen. Auch in der „Futterluke", der Mensa, sitzen Schüler hinter Büchern. „Darf ich mal euren Ausweis sehen", sagt Thiel und setzt ein strenges Gesicht auf. Nils und Kevin zücken eine grüne Lichtbildkarte. Wer sich „verantwortlich" verhält, darf während der SOL-Einheiten in der Mensa arbeiten, noch beliebter seien nur die Lerninseln auf dem Hof, sagt Kevin und zuckt mit den Schultern: Regenschauer peitschen ans Fenster. Die Holzpavillons draußen mit den Tischbänken trotzen verwaist einem strengen Westwind. Nils zieht sich die Schirmmütze nach hinten. „Dass wir in der Futterluke lernen können, haben wir gegen die Lehrer durchgesetzt." Thiel räuspert sich. Nun ja, man habe im Kollegium halt Bedenken gehabt, sagt er, wegen der Aufsicht und den Getränkeautomaten. Nils grinst. „Die Lehrer haben dann Zeit erhalten, mal nachzudenken."

So läuft das in Wolmirstedt. Die Schulkonferenz, bestehend zu je einem Drittel aus Schülern, Eltern und Lehrern, setzte sich über die Bedenken der Pädagogen hinweg. Eine doppelte Stimme hat Thiel nicht. Und ist darüber froh. „Die Mensa hat sich als ein ausgezeichneter Lernort erwiesen", sagt er. „Man lernt ja nie aus." Jede Neuerung im Unterricht geht diesen Weg. Eine Klasse prüft eine Anregung im Pilotprogramm, dann entscheidet die Konferenz für die ganze Schule – alle Gruppen sind beteiligt.

Die SOL-Einheit der Schüler nutzen die Lehrer der Klasse 9a zu einer „Kommunikationsstunde". Sie beraten, wer welche Stunden für die Lernwerkstatt „Leonardo da Vinci" verwendet. „In Hauswirtschaftslehre könnten wir Rezepte aus der Renaissance nachkochen", schlägt Iris Nickel vor. „Allerdings kenne ich nicht die alten Maße, wäre das etwas für den Matheunterricht?" Birgit Schellhase nickt. Quer durch alle Fächer sprechen sich die Pädagogen über ihren Zugang zum Phänomen da Vinci ab. Die Kommunikationsstunde ist fester Bestandteil des in Viertelstunden getakteten Stundenplans. Er erlaubt mehr Flexibilität als die klassische Dreiviertelstunde. Auch „Sorgenfälle" kann das Lehrerteam schnell erörtern. Seit zehn Jahren gibt es keinen Abbrecher und keine erzwungene Wiederholung mehr. Vorausschauend organisieren die Lehrer für versetzungsgefährdete Schüler drei Ferienakademien im Jahr.

Mindestens zwei Wochen im Jahr bringt jeder Lehrer in die Akademien ein, für den Einzelunterricht. „Das ist einfach Solidarität", sagt Thiel. Auch das ist Wolmirstedt: Wertvolle Elemente der Schulkultur aus der DDR-Zeit hat man sich hier bewahrt; Fürsorge für die Schüler, eine hohe Verbindlichkeit im Umgang mit gefassten Beschlüssen – und Solidarität.

Die Schüler zahlen sie zurück, auf ihre Weise. Draußen auf dem Hartgummiplatz kämpfen acht Jungs und ein Ball gegen Wind und Regen an. Im Kurs „Miteinander Leben" bolzen Gutenberger und Jungs aus der benachbarten Gerhard-Schöne-Schule für geistig Behinderte. Wer von welcher Schule kommt, erkennt man im Spiel nicht. „Der Kurs ist bedeutsam", sagt Lehrerin Manuela Nebelung, „die Bewertungen kommen in die Ausbildungsbewerbungen". Vor ihr dreschen die Jungs die Pille gegen eine Böe, der Ball kommt kaum voran. Mit einem Mal lässt der Wind nach. Im Doppelpass rennen zwei nach vorn, der Ball saust flach, da schüttelt ihn wieder der Wind – und schickt den Torwart in die falsche Ecke. Das Leder hüpft, wird langsamer und trudelt ins Netz.

Jan Rübel

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Um zwölf Uhr halten alle den Atem an. Elmedin zückt sein Handy und filmt, wie Willy Düpjohann einen letzten Blick auf die Ventile des Motors wirft, einen Schraubenzieher als Hebel hineinschiebt und mit einem Ruck nach unten die Schwingscheibe auf Touren bringt. 60 PS röhren – „Stapellauf geglückt!“, jubelt Elmedin, 16, und greift nach der Hand von Willy Düpjohann, 80. Zwei Rentner schlendern vorbei. „Bei Willy hat der Motor keine andere Chance, als zu laufen“, schmunzelt einer von ihnen, hier, im Vorhof einer ausgedienten Gärtnerei im Ostmünsterland – der Außenwerkstatt der August-Claas-Schule in Harsewinkel bei Gütersloh.

In den vergangenen Wochen hatte Elmedin aus den Teilen zweier Mähdreschermotoren einen neuen Motor zusammengesetzt, bald soll dieser in einen Traktor eingebaut werden – alles in der Unterrichtszeit. Denn die August-Claas-Schule setzt auf fundierte Berufsvorbereitung: Zehn Rentner, alle ehrenamtlich tätig, geben ihre Berufserfahrung an 20 Schüler weiter. Zuerst waren es die Mitglieder des Seniorentreffs des Landmaschinenherstellers Claas gewesen, die auf Ansprache der Schule reagiert hatten. Mittlerweile hat sich der gute Ruf der Werkstatt in der 24 000-Einwohner-Stadt herumgesprochen; immer wieder melden sich Pensionäre bei der Schule, die mitmachen wollen.

Unter dem sonnendurchfluteten Kunststoffdach der ehemaligen Gärtnerei, in getrennten Arbeitsnischen für Elektro oder Holz, Kfz, Sanitär, Hoch-, Tief- oder Trockenbau vertiefen sich Junge und Alte in anspruchsvolle technische Aufgaben, entspannt und zugleich hochkonzentriert. „Hier weiß jeder, was er zu tun hat“, sagt Willy Düpjohann, und Elmedins dankbarer Blick verrät, dass der Teenager vom gelernten Kfz-Mechaniker, den alle nur „Halbgott Willy“ nennen, nicht nur das Motorenschrauben lernt. Sondern dass er in ihm auch ein Vorbild sieht.

Acht statt der üblichen drei Unterrichtsstunden in der Woche arbeiten die Schüler in der Außenwerkstatt. Dort können sie ihre Talente ausprobieren und Arbeitswirklichkeit erleben. Die Außenwerkstatt der Hauptschule finanziert sich durch den Verkauf ihrer Produkte und Dienstleistungen – und durch Spenden. Die städtische Ganztagsschule sieht sich mit Stolz nicht als Restschule, erhalten doch 60 Prozent ihrer Abgänger einen Ausbildungsvertrag und wechseln 40 Prozent auf weiterführende Schulen. Sitzenbleiber, Schulabbrecher? Fehlanzeige. Die beruflichen Perspektiven sind oft sogar besser als jene ihrer Mitschüler auf Realschule und Gymnasium: Denn der Hauptschüler bleibt nach der Ausbildung dem Betrieb erhalten und erscheint dadurch attraktiver.

Dieser Erfolg liegt auch an Christiane Michael. Die 48-jährige Trainerin sitzt im Erdgeschoss des Hauptgebäudes Ronan gegenüber. „Hast du gestern die Lokalzeitung gelesen? Da sucht eine Firma Mechatronik-Lehrlinge“, sagt sie und reicht ihm die Zeitungsseite. „Klingt gut“, sagt der 16-Jährige. „Fotos habe ich noch. Haben Sie morgen Zeit für das Bewerbungsschreiben?“ Christiane Michael sitzt im vielleicht kleinsten Raum dieser 5 000 Quadratmeter großen Schule mit ihren 125 Räumen für 470 Schüler. Aber an ihr geht kaum jemand vorbei – die städtische Angestellte ist „Übergangscoach“ und begleitet die Schüler beim Einstieg in den Beruf. „Fast alle Schüler kommen zu mir in die freiwillige Beratung“, sagt sie. Christiane Michael hält engen Kontakt zu vielen Arbeitgebern der Region. „Schon in der 9. Klasse sondiere ich die Berufswünsche und beginne mit der Suche.“ Sie betreut die Schulabgänger sogar noch zu Beginn der Lehre.

Als Schulform gilt die August-Claas-Schule als Auslaufmodell. Im nächsten Schuljahr wird sie mit einer Realschule zur Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe zusammenwachsen. Doch mit ihrer Praxisnähe und Konzentration auf die berufliche Zukunft hat die „Restschule“ eine Erfolgsgeschichte geschrieben, die für viele Schulen in vielen Regionen beispielhaft sein könnte.

Das eigenverantwortliche Arbeiten in der Außenwerkstatt setzt sich auch im Unterricht fort. Die Bandklasse 7a/8b übt gerade das Stück „Mercy“ ein. „I don’t know what this is, but you got me good“, singen vier 13-jährige Frontsängerinnen den Song des walisischen Soulstars Duffy. Dahinter rocken eine Bassgitarre, zwei E-Gitarren, Keyboards und ein Schlagzeug. Zwei Schüler mit Behinderung sollen hier in der Schülerband mitspielen. Wer das ist, erkennt man nicht. „Der Song steht“, bilanziert ein Schüler und reckt die Drum-Sticks nach oben. Der 13-Jährige blickt in die Runde. „Jetzt können wir vier Lieder für das Schulfest in zwei Monaten. Was noch?“ Wie aus einem Mund rufen die vier Frontsängerinnen: „‘Back to Black‘ von Amy Winehouse.“ In der August-Claas-Schule lernt jeder Schüler ein Musikinstrument. So wie in der Außenwerkstatt Jung und Alt voneinander lernen, lernen hier Leistungsstarke und Leistungsschwache gemeinsam. Das hilft allen.

In der Schule herrscht nicht nur eitel Sonnenschein, davon zeugt der „Raum für eigenverantwortliches Denken“ (RVD) im ersten Stock. Dorthin kommt, wer den Unterricht stört. Mehmet* sitzt vor einem Blatt Papier und schreibt. „Mein Plan“, steht da doppelt unterstrichen. Mehmet hat seinen Schulranzen vergessen, nicht zum ersten Mal. Er hatte mit der Lehrerin einen heftigen „Dialog“, wie der 14-Jährige sagt. Deshalb musste er in den RVD. „Das ist kein Knast“, sagt Mehmet. „Aber man weiß: Da darf man nicht rein, das ist schlecht für das Ansehen. Vollkommen uncool.“

Die Lehrer der August-Claas-Schule haben untereinander einen Deal geschlossen: Jeder von ihnen schiebt freiwillig Aufsichtsdienst im RVD. Für diese Überstunden erhalten sie Entlastung im Unterricht. Und die Schüler die Chance zur Besinnung. Im RVD schreibt Mehmet zunächst zusammen mit Lehrerin Ulrike Schulze-Vejnovic seine Sicht der Dinge auf, dann schaut er in den Schulregeln nach – seine Schimpftirade findet er als Verstoß und schreibt nun, was er in Zukunft besser machen will: „Respekt zeigen, nicht ausrasten“, fasst Mehmet knapp zusammen. Rektor Hermann Hecker schaut zur Tür herein. „Das stärkt das Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft“, sagt er mit Blick auf den RVD.

Dieses Verantwortungsgefühl ist allerorten spürbar. Die Mensa zum Beispiel ist fest in der Hand von „Buddys“. Ein Drittel aller Schüler beteiligt sich am bundesweiten Buddy-Programm „Aufeinander achten – füreinander da sein“. Schüler sollen durch freiwilliges Engagement ihre soziale Kompetenz stärken. In der Mensa säubern vier Buddys die Tische von den Resten des Mittagessens, an einer Säule zum Eingang lehnen zwei Sanitäter- Buddys in orange-weiß gestreiften Westen, die Arme verschränkt: Als einzige Schüler dürfen sie heute mit Handy unterwegs sein; ein Diensthandy, das sie im Notfall benutzen würden. Für kleinere Unfälle haben die beiden Neuntklässler einen Beutel mit Verbandszeug und Pflaster dabei. Und schauen wichtig drein.

Es ist später Nachmittag. Langsam leeren sich die Räume und Flure. An einer Wand nahe dem Haupteingang hängt eine mannsgroße Platte aus Edelstahl. Das Konterfei des Namensgebers August Claas, Mitbegründer des Landmaschinenkonzerns Claas. Schüler haben es im Projektunterricht in den Stahl gelasert und daneben den ehrfürchtigen Satz geschrieben: „Er war Optimist, Pionier, Gründer, Entdecker und Tüftler“. Kann es ein besseres Motto geben für seine Schüler?

* Namen geändert

Kurzporträt der August-Claas-Schule in Harsewinkel, Preisträger 2012.

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Elsa ist ratlos. Irgendetwas stimmt hier nicht. Angestrengt starrt sie durch ihre Kinderbrille auf das Häufchen Figuren, das vor ihr liegt. „Zwei Höcker, Bart und ein Schwanz, aber keinen Zahn“, murmelt die Siebenjährige, das sind die Vorgaben für das kleine Ungeheuer, das sie ausfindig machen soll – doch das gesuchte „Kamuffel“ ist einfach nicht zu finden. Normalerweise würde sich eine Zweitklässlerin nun an die Lehrerin wenden. Aber Elsa geht zu Jonathan, der im Nebenraum am Computer sitzt.

Jonathan ist zwei Jahre älter als sie und hat wirklich Wichtiges zu tun: Er beantwortet gerade knifflige Fragen zu Harry Potter. „Kannst Du mir helfen?“, fragt Elsa mit ernstem Wissenschaftlerblick. Jonathan murrt nicht, er zieht nicht mal die Augenbrauen hoch, sondern folgt Elsa zu ihrem Tisch. „Man fragt immer erst andere Kinder“, erklärt Elsa, während sich Jonathan über das Häufchen beugt. „Nur wenn die nicht helfen können, fragt man die Lehrerin.“ Elsas Grundschule ist ein ehrwürdiger Bau, gut hundert Jahre alt, krisengestählt. Zweimal schon drohte die Schließung der mit 376 Kindern eher kleinen Schule an der Rellinger Straße im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel. Jedes Mal konnte sie abgewandt werden, nicht zuletzt, weil es Eltern gibt, die auf diese Schule schwören. Will man herausfinden, was hier anders ist als anderswo, kann man die Leitsätze der Schule lesen, in denen von „individualisiertem Lernen“ die Rede ist. Oder aber den Hinweis an der Tür im Erdgeschoss: „Liebe Eltern, ab hier können wir alleine gehen.“

Ein ähnlicher Satz könnte in jedem Klassenzimmer hängen: Liebe Lehrer, ab hier können wir alleine gehen – wäre dieser Leitsatz den Lehrern nicht längst in Fleisch und Blut übergegangen. Man kann eine Schule von oben verändern, durch ein neues Schulsystem, das die Politik vorgibt. Oder von unten, durch einen anderen Unterricht.

An der Schule Rellinger Straße in Hamburg geschieht beides gleichzeitig. Grundschüler bleiben sechs statt der üblichen vier Jahre zusammen, bevor sie sich auf andere Schularten verteilen. Diese „Primarschule“ war ursprünglich für alle Hamburger Grundschulen geplant, doch der große Wurf scheiterte 2010 bei einer Volksabstimmung, viele Hamburger Eltern fürchteten Nachteile für ihr Kind, wenn es zwei Jahre später mit „gymnasialem Lernen“ begänne. Nur vier Hamburger Grundschulen unterrichten ihre Schüler sechs Jahre lang, als Schulversuch. Die „Relli“ gehört dazu. Denn sie hat viele alte Zöpfe abgeschnitten: Es gibt nur noch Doppelstunden, die Lehrer erteilen „Kompetenzzeugnisse“ statt Notenzeugnisse. Die Kinder werden nicht mehr in Klassen, sondern in Lerngruppen unterrichtet.

Die tiefgreifendste Änderung aber ist das neue Rollenverständnis der Lehrer. Eine Lehrerin ist hier keine „Servicekraft“ mehr, die alles „kleinschrittig“ erklärt. „Wo ist mein Radiergummi? So etwas fragt man den Lehrer nicht,“ sagt Schulleiterin Petra Stumpf. „Alles, was sich Kinder gegenseitig beibringen, mach ich als Lehrkraft nicht.“ Pädagogen nennen dies das „Prinzip der minimalen Hilfe“. „Man kann Kinder auch mit zu viel Hilfe erschlagen“, erklärt Elsas Lehrerin Conni Kastel, 57.

In Elsas Klassenzimmer, das „Lerngruppenraum“ heißt, hängt noch so ein Merksatz: „Jeder Chef, jede Chefin ist für sich selbst verantwortlich.“ Jedes Kind hat eine Gemeinschaftsaufgabe, beispielsweise die Arbeitsmaterialien auf Vollständigkeit zu prüfen.

Elsa ist Computer-Chefin, aber vor allem ist sie Chefin für ihr eigenes Lernen. Weil auch Jonathan das Kamuffel nicht finden kann, geht Elsa schließlich zu Frau Kastel. Conni Kastel wirft einen Blick auf die Teile. Tatsächlich, das Kamuffel fehlt. Bei ihrer täglichen Schlussrunde mit allen Kindern auf dem runden Teppich wird Elsa davon berichten. „Ich hab meine Aufgabe nicht geschafft, weil ein Plättchen gefehlt hat.“ Ein klarer Fall für Kamuffel-„Chefin“ Lisa, 9, sie wird zehn Kinder aus der Klasse auswählen und gemeinsam mit ihnen nach dem verschlamperten Teil suchen. Elsa hat da schon mit ihrer Lehrerin aufgeschrieben, was sie an diesem Tag geschafft hat.

In ihrer „Planungsmappe“ steht außerdem, was sie diese Woche noch zu tun hat und was sie längst hinter sich gelassen hat. Was ihr schwerfiel, womit sie sich leichttat. „Ich kenne das ABC“ steht über einem Blatt. Abgehakt am 19.5.2011. „In jedem Kind steckt etwas ganz Eigenes“, weiß die Schulleiterin. „Man muss diese Selbständigkeit ernst nehmen, dann wachsen Kinder wirklich.“ Das setzt Gelassenheit voraus, aber auch genaues Wissen, unter welchen Bedingungen Kinder gut lernen – und anderen helfen können. Die Altersmischung sei wichtig, erklärt Petra Stumpf. Erste Erfahrungen sammelte die „Relli“ schon im Jahr 2004 mit Lerngruppen aus Vorschülern und Erstklässlern. Heute lernen immer drei Jahrgänge zusammen, Erstklässler mit Zweit- und Drittklässlern.

Viertklässler mit Fünfern und Sechsern. Diese Lerngruppe gilt als besonders ambitioniert. Denn was bedeutet es für Sechstklässler, wenn sie mit Viertklässlern an einem Tisch sitzen? Treten sie dann auf der Stelle? Die Lerngruppe von Ute Manthey, Klasse 4 bis 6, hat heute „Projektzeit“. Das heißt für Kira und Anna, dass sie sich mit einem selbstgewählten Thema beschäftigen dürfen. Das Wunschthema der zwölfjährigen Kira aus der 6. Klasse und der zehnjährigen Anna aus der Vierten ist die Tiefsee. Jede hat neun „Forscherfragen“ gesammelt. Zum Beispiel: Wie ernähren sich die Tiere in der Tiefsee? Wie lange kann man mit einer Sauerstoffflasche tauchen?

Bloß mal kurz bei Wikipedia nachschauen, das gilt nicht. Kira und Anna recherchieren Originalquellen. Entdecken einen Meeresbiologen am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel, der ihre Fragen per Mail beantwortet. „Was ist noch mal die Dekompressionskrankheit?“, fragt Anna. „Da bilden sich in der Lunge Gasbläschen, wenn die platzen, dann ist man tot“, erklärt Kira. Die fertige Arbeit wollen sie in den nächsten Tagen den Mitschülern vorstellen. „Jeder kann mal was und jeder kann mal was nicht“, sagt Lehrerin Conni Kastel. Emrah, 11, der die Architektur des Empire State Building recherchiert, erklärt es so: „Es ist wie eine Kette, jeder bringt es dem anderen bei.“ Und jeder, findet Toyoshi, 11, der bäuchlings auf dem Teppich liegt, einen Laptop vor sich, profitiert, wenn er anderen etwas erklärt. Fast jeder zweite Schüler verlässt die Schule an der Rellinger Straße mit einer Empfehlung fürs Gymnasium. Bei den weiterführenden Schulen gelten die Absolventen als besonders selbständig und gut organisiert.

Lernen an der „Relli“ heißt aber nicht Lernen nach Belieben. „Wir geben auch viel vor“, betont Conni Kastel. Kaum ein Kind begeistert sich fürs Einmaleins. Also müsse man Anreize schaffen. Kinder lieben Zertifikate, also gibt es an der „Relli“ ein Zertifikat fürs erfolgreich gebüffelte Einmaleins. Früher Nachmittag. Conni Kastel zeigt den Boxraum im dritten Stock, in dem sich Schüler austoben dürfen. Sie sagt: „Man muss zu Kindern eine Haltung entwickeln, keine Methode.“ Plötzlich eilt sie hinaus auf den Flur. Ganz unten im Treppenhaus hört man ein Weinen. Dann leise Stimmen, das Weinen versiegt. „Da sind noch andere Kinder dabei“, sagt sie und wirkt wieder entspannt. Auf ihre Kinder ist Verlass.

Kurzporträt der Schule Rellinger Straße in Hamburg, Preisträger 2012.

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Eine pappdicke Schicht Margarine schmiert sich die siebenjährige Priscilla auf eine Brötchenhälfte. Ihre Haare sind zu feinen Dreadlocks gezwirbelt, der pinkfarbene Nagellack ist schon etwas abgekaut. Sie greift nach dem Honigglas. Auf dem Tisch stehen außerdem Apfel- und Orangensaft, Müsli, Käse, Wurst und eine große Kanne Kakao. Warum sie jeden Morgen um halb acht zum Frühstücken in die Schule kommt, mag das aus Ghana stammende Mädchen nicht erzählen. Dafür springt der gleichaltrige Ariel ein: „Meine Mutter arbeitet früh, und mein Vater muss sich von der Nachtschicht erholen.“ Schichtarbeit, Überforderung der Eltern oder auch Geldnot: Es kann viele Gründe geben, das Frühstück ausfallen zu lassen. Doch anstatt über vermeintlich nachlässige Eltern zu klagen, sorgen Schulleiterin Maresi Lassek und ihre Kollegen lieber dafür, dass die Kinder vor der ersten Stunde erstmal etwas in den Magen bekommen.

Die Schule am Pfälzer Weg ist umstanden von weiß-grau gestrichenen Hochhäusern, mal zwölf, mal 16 Stockwerke hoch, sonst unterscheiden sie sich kaum. Der Bremer Stadtteil Tenever ist kein einfacher Ort: Die Wahlbeteiligung ist niedriger, Ausländeranteil, Arbeitslosigkeit und Jugendkriminalität sind höher als in vielen anderen Bezirken der Hansestadt. In der Schule spiegeln sich die kulturellen Unterschiede und sozialen Schwierigkeiten des Stadtteils wider: Rund 90 Prozent der 179 Kinder haben ausländische Wurzeln, ihre Eltern kommen aus Somalia, Marokko oder Pakistan, aus der Türkei, Polen oder Russland. Mindestens 60 Prozent ihrer Familien sind auf Transferleistungen wie Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld angewiesen.

Ein schwieriges Elternhaus und ein Standort an einem „sozialen Brennpunkt“ bedeuten in Deutschland für die Kinder in der Regel: schlechtere Chancen auf einen guten Schulabschluss, eine Ausbildung, einen vernünftig bezahlten Job. Die Schule am Pfälzer Weg hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Teufelskreis zu durchbrechen, den Startnachteil der Kinder, so weit es irgend geht, auszugleichen und ihnen eine Perspektive zu geben – mit Erfolg. Unermüdlich sammeln die Lehrer Spenden, schreiben Projektanträge und suchen Sponsoren, um Extras zu ermöglichen wie das Schulfrühstück und gesundes Obst für zwischendurch, aber auch für Materialien wie Zirkel oder Scheren, die viele Eltern ihren Kindern nicht bezahlen können. Auch haben sie dafür gesorgt, dass täglich Lesehelfer an die Schule kommen – dafür arbeiten sie eng mit der „Freiwilligenagentur“ zusammen, einer Bremer Ehrenamtlichenbörse.

Besonders am Herzen liegt Schulleiterin Lassek ein guter Kontakt zu den Eltern, weshalb sie vor sechs Jahren das Programm „KESch“ ins Leben rief. Das Kürzel steht für „Kinder, Eltern und Schule im Dialog“: Über die normalen Elternabende und Sprechtage hinaus treffen sich Lehrer und Eltern jeder Klasse einmal monatlich einen ganzen Nachmittag lang. Am Anfang lernen sich Eltern und Lehrer kennen, die Eltern zeigen sich gegenseitig ihre Heimatländer auf einer Weltkarte und erzählen einander, welche Spiele sie selbst früher gespielt haben. Später arbeiten sie gezielt an Themen wie „Ernährung“, „Konfliktlösung“ oder „Lernen“. Auch gemeinsame Ausflüge mit den Kindern stehen auf dem Programm wie Spielnachmittage, Konzert- oder Museumsbesuche.

„Dank der konsequenten Elternarbeit kommen Mütter und Väter viel regelmäßiger zu Elternabenden und engagieren sich auch außerhalb der Schule viel stärker für die Entwicklung ihrer Kinder“, erzählt Maresi Lassek, als sie durch den Klinkerbau führt, in dem 1993 der Betrieb aufgenommen wurde. Viel Tageslicht strömt in die breiten Flure und hell gestrichenen Klassenräume. „Wenn wir ihnen etwa erklären, wie wichtig Radfahren für die kindliche Entwicklung ist, sorgen fast alle für ein verkehrstüchtiges Fahrrad. Das ist in diesem Stadtteil überhaupt keine Selbstverständlichkeit.“

„Das Verhältnis zwischen Eltern und Lehrern wird durch das Programm partnerschaftlicher“, sagt die türkischstämmige Özen Cakir-Memoglu, die gerade für einen Termin mit der Schulleiterin zu Besuch ist. Auch untereinander geben sich die Eltern, die durch das Programm näher zusammenrücken, nützliche Tipps: „Meine Tochter ärgert sich schnell, wenn ihr etwas nicht sofort gelingt“, so die Mutter. Von anderen Eltern habe sie gelernt, dem Mädchen dann zu sagen: „Du bist doch in anderen Sachen gut, keiner muss alles können.“

Die dritte Stunde ist angebrochen. „Wochenplanunterricht Deutsch“ für die Gruppe der „Tigeraugen“, in der Dritt- und Viertklässler gemeinsam unterrichtet werden. Ihre Tische stehen locker im Raum verteilt, die großen Fenster sind mit Papierblumen verziert, unter der Decke hängen selbstgebastelte Tiermasken. In den Regalen finden sich Materialordner zu Themen wie „Brot“, „Wald“ oder „Strom“. Je nachdem, wo sie in ihrem Lernprozess stehen, lösen die Kinder unterschiedliche Aufgaben – natürlich in Absprache mit ihrer Lehrerin: Einige suchen Wörter im Kinderwörterbuch, andere füllen Lückentexte aus oder lösen Buchstabenrätsel.

Derweil beugt sich die neunjährige Vanessa über ihr Geschichtenheft und schreibt eine selbst ausgedachte Erzählung noch einmal in Reinschrift ab. „Es war einmal vor nicht allzu langer Zeit, da lebte ein Mädchen“, steht dort bereits. „Sie hatte einen süßen Hund.“ Auch Klassenkamerad Abdullah arbeitet an seiner Geschichte: Sie handelt von einem Jungen, der den seltsamen Namen „Hartwig“ trägt. Um nicht länger von den anderen gehänselt zu werden, will er lieber „Mohammed“ heißen. Am Ende aber findet er wieder zu seinem richtigen Namen zurück und wird von den anderen akzeptiert. Einander so annehmen, wie man ist, Unterschiede als selbstverständlich anerkennen: In der bunt gemischten Grundschule lernen das die Kinder ebenso wie ihre Schulfächer Mathe, Deutsch oder Musik. Nicht nur, weil sie aus so vielen verschiedenen Ländern kommen. Und nicht nur, weil in ihren Klassen – so wie im gesamten Bundesland Bremen – Kinder mit und ohne Förderbedarf gemeinsam unterrichtet werden. Mit jahrgangsübergreifendem Unterricht setzt die Schule am Pfälzer Weg noch einen obendrauf: Die Erstklässler lernen gemeinsam mit den Zweitklässlern, die Dritt- mit den Viertklässlern.

Beginnt ein neues Schuljahr, erklären die frischgebackenen Zweitklässler den Schulanfängern, wo die Jacken aufgehängt werden, wie man den Morgenkreis leitet und wie die Tafel gewischt werden soll. „Das funktioniert so gut, dass wir Lehrer dadurch tatsächlich weniger organisatorischen Aufwand haben. Dadurch können wir uns noch besser auf den eigentlichen Unterricht konzentrieren“, freut sich Maresi Lassek. „Durch ihre neue Rolle machen die Großen einen riesigen Entwicklungssprung.“ Die Sozialkompetenzen der Kinder fördern und auf die Lebenswelten der Kinder eingehen – auf den ersten Blick scheinen diese Pfeiler im Konzept der Schule gar nicht so viel mit Lernen und Leistung zu tun zu haben. Doch sorgen sie für eine Atmosphäre, in der die Kinder auch in Sachen Noten überdurchschnittlich gut abschneiden: 30 Prozent der Schüler schaffen in der 4. Klasse die Voraussetzungen fürs Gymnasium – deutlich mehr als in anderen Schulen in vergleichbaren Bremer Stadtteilen. Und damit eine Chance auf eine Zukunft jenseits der Hochhäuser von Tenever.

Kurzporträt der Schule am Pfälzer Weg in Bremen, Preisträger 2012.

Porträt

Porträt

„Paul-Martini-Schule? Noch nie gehört!“, tönt der Taxifahrer am Hauptbahnhof in Bonn. Wenige Minuten später stoppt er seinen Wagen vor einem zweistöckigen Jahrhundertwende-Rotklinkerbau auf dem Gelände der Rheinischen Kliniken und mustert ihn, als wolle er sich vergewissern, dass die Lücke auf seinem inneren Stadtplan real ist.

„Uns findet man eben nicht so leicht“, weiß Elfriede Link und schaut vergnügt aus ihrem Büro in den verwunschenen Hinterhof der ehemaligen Frauenpsychiatrie-Station, in der seit 2005 junge Patienten der Kliniken unterrichtet werden – vom Vorschüler bis zum Abiturienten. Eine „Schule für Kranke“ mit einem eigenen Schulgebäude ist eine Seltenheit in Deutschland, doch die 56-jährige Leiterin scheint sich nicht an der mangelnden Bekanntheit zu stören. Im Gegenteil: Das Haus ist Lern- und Schutzraum zugleich, seine Isolation Voraussetzung für pädagogische und therapeutische Erfolge.

Für künstlerische allemal, das verraten Kunstwerke im ganzen Schulhaus: Makroaufnahmen von Blüten, Foto-Dokumentationen, Illustrationen und Texte, die von den Gedanken und Gefühlen der jungen Patienten erzählen, die nebenan im Krankenhaus behandelt wurden und hier zur Schule gingen. Ein Mädchen namens Miriam* schreibt: „Warum ich hier war, spielt keine Rolle. Wichtig ist nur: Ich bin wieder ich. Und darauf bin ich sehr stolz.“

Die Kinder und Jugendlichen leiden unter seelischen Problemen, haben ADHS, Autismus, Angst-, Ess- oder Zwangsstörungen, eine verzögerte Sprachentwicklung, manche sind traumatisiert. In den drei Außenstellen der Schule, der Kinderchirurgie, dem Kinderneurologischen Zentrum und der Kinderklinik, werden Kinder mit chronischen Erkrankungen wie Rheuma, Diabetes, Mukoviszidose oder Krebs unterrichtet. Einige besuchen die Schule für ein paar Wochen, andere bleiben Monate. 21 Sonderpädagogen sind für bis zu 130 Kinder und Jugendliche da.

Florian* war zehn Wochen lang in der Psychiatrie. „Wegen Depressionen“, sagt er ganz unbefangen. Vier Wochen nach seiner Entlassung ist der sportliche 16-Jährige zu Besuch in der Musik-AG von Birger Kohlhase und haut in die Saiten, wie immer am liebsten „Layla“ von Eric Clapton. In einer Pause lehnt er sich entspannt auf die Gitarre und erzählt von seiner Krankheit: „Ich war völlig antriebslos. Alle haben gesagt, reiß dich zusammen. Aber das bringt nichts!“ Als er anfing, sich zu „ritzen“, besorgte die Mutter ihm einen Therapieplatz.

„Solche Krisen sind keine Seltenheit in der Pubertät“, sagt Elfriede Link. Häufig hängen sie auch mit der persönlichen Lebensplanung zusammen, weshalb sie es als Aufgabe der Schule sieht, gemeinsam mit Therapeuten, Eltern und der Heimatschule, Perspektiven zu entwickeln: Wo liegen meine Talente? Welche Ziele habe ich? „Irgendwann stand die Frage im Raum: Muss ich überhaupt auf ein Gymnasium gehen?“, erzählt Florian. Er entschied sich für den Wechsel auf eine Realschule mit Schwerpunkt Musik. Kein Einzelfall, wie Elfriede Link betont: Die Hälfte der Schüler, die wegen einer Krise kommen, wechselt die Schule. „Die AG hat mich im Musikmachen bestärkt“, sagt Florian. „Das hat mir Kraft gegeben.“

Kreatives Arbeiten, das sich eng an den Interessen und Talenten der Schüler orientiert, nimmt einen wichtigen Teil des Unterrichts ein. Das hat manchmal sogar Vorrang vor den Hauptfächern. Im Kunst-Atelier arbeiten Schüler im Malerkittel an großen Staffeleien, in der Schreibwerkstatt brüten sie über Gedichten. Die „AG Intermezzo“ sammelt und verfasst Texte für eine Schülerzeitung, die zweimal im Jahr erscheint, darunter viele autobiografische Texte der Schüler. Das Wochenende beginnt freitags um 12 Uhr mit „Radio PMS“: Eine halbe Stunde lang lauscht die ganze Schule den Stimmen der Radio-Macher, die kleine Beiträge über die Schule und das Weltgeschehen vorlesen und Musik einspielen. Lautsprecher übertragen das Live-Programm in jeden Klassenraum.

Als Elfriede Link 2001 an die Paul-Martini-Schule kam, fanden die Schulstunden in Therapieräumen auf den Stationen statt, und als Lehrerzimmer dienten leerstehende Räume in dem damals von Asylbewerbern bewohnten Gebäude. Als sich deren Umzug andeutete, witterte Elfriede Link ihre Chance. Sie schrieb ein Konzept für eine Krankenschule, die unabhängig und zugleich Hand in Hand mit den Therapeuten arbeitet, sprach bei Chefärzten und der Verwaltung vor, stellte Anträge an den Schulträger, die Stadt Bonn. „Es ging mir darum, einen Ort zu schaffen, an dem die Kinder und Jugendlichen in erster Linie Schüler und nicht Patienten sind“, sagt sie heute. An dem nicht jeden Tag alle Spuren des gemeinsamen Arbeitens nach Unterrichtsschluss getilgt werden müssen. Sie hatte Erfolg – und das, obwohl die von ihr geplante Institution gar nicht im Schulgesetz verankert ist. „Offiziell gelten wir weder als Förderschule noch als Regelschule.“ In einer Veröffentlichung des Ministeriums heißt es: „Die Paul-Martini-Schule ist eine Schule eigener Art“. „Ich sag’ dann immer, wir sind eine eigenartige Schule“, sagt Elfriede Link. „Und dann zähle ich unsere Eigenarten auf.“

Da ist zum einen die Größe der Lerngruppen, die selten mehr als zehn Schüler umfassen, dafür aber stets zwei Klassenstufen vereinen und individuelle Förderung in den Vordergrund stellen. Wie in der Gruppe aus Erst- und Zweitklässlern, die Oliver Belkot, 30, an diesem Morgen unterrichtet: Der neunjährige Simon sitzt still über seinen Rechenaufgaben, während Meysam, 7, ein Puzzle legt. Sein Nebenmann hingegen kann sich kaum auf dem Stuhl halten und rennt plötzlich auf die Toilette. Belkot hält ihn nicht auf, doch wenn ein Schüler es zu weit treibt, setzt er die hölzerne Wäscheklammer mit seinem Namen auf einer Papp Ampel von „grün“ auf „gelb“. Bei „rot“ angekommen, fällt der belohnende Griff in eine Süßigkeitenkiste am Ende der Stunde aus. „Wir nehmen Rücksicht, wenn Kinder impulsgesteuert handeln“, sagt er. Zugleich aber müsse positives Verhalten verstärkt werden.

„Unser Ziel ist es, die Kinder auf den Besuch einer Regelschule vorzubereiten.“ Auch die sechs Jugendlichen, die eine Tür weiter über ihren Aufgaben sitzen, nutzen ihre Zeit an der Paul-Martini-Schule als Experimentierfeld. Die Neunt- und Zehntklässler besuchen die Schule im Rahmen einer mehrwöchigen stationären Stotter-Therapie an der Klinik. Im Klassenraum können sie ihre Fortschritte in Form von Rollenspielen einüben. „Wir sind eine mobbingfreie Zone“, sagt Elfriede Link. In ihrem Haus stehen therapeutische und pädagogische Ziele oft im Vordergrund, etwas anderes lassen die Diagnosen vieler Schüler gar nicht zu. Doch wo es geht, wird auch Leistung gefordert, etwa bei den Vorbereitungen auf externe Haupt- und Realschulabschluss-Prüfungen. Auch das Proben von Bewerbungsgesprächen oder die schrittweise Rückkehr an die alte Schule dient dem Ziel, wieder auf eigenen Beinen zu stehen. „Wenn ein Schüler uns verlässt, sagen wir nicht: Auf Wiedersehen“, so Link. „Wir sagen: Lebewohl!“

*Namen geändert

Kurzporträt der Paul-Martini-Schule in Bonn, Preisträger 2012.