Porträt

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Von außen sieht die Martinschule in Greifswald aus wie eine gewöhnliche Schule, wie sie noch zu Hunderten in den neuen Bundesländern steht. Fast ausnahmslos alle der weit mehr als 2.000 Schulneubauten in der DDR sind nach einer genormten Bauweise entstanden; die Gebäudetypen heißen Erfurt, Chemnitz, Leipzig oder Halle, benannt nach den ehemaligen Bezirken der DDR. Die Martinschule gehört zum Typ Rostock: ein langer viergeschossiger Block mit drei Treppenhäusern, die nur im Erdgeschoss miteinander verbunden sind; an der Hinterseite verstecken sich zwei Fachraumgebäude, die mit Verbindungsbauten an das Haupthaus angeschlossen sind. Im früheren Bezirk Rostock, der sich nahezu über die gesamte mecklenburg-vorpommerische Ostseeküste erstreckte, ist ein Großteil der Schulen nach genau diesem Modell gebaut worden.

Heute unterrichtet Anne Wende in der zweiten Etage – sie ist Lehrerin am Evangelischen Schulzentrum Martinschule, unter dessen Dach alle Kinder und Jugendlichen willkommen sind – ganz gleich ob mit oder ohne Handicap, Förderbedarf, Religionszugehörigkeit oder besonderer Begabung. Anne Wende ist zuständig für eine Stammgruppe in der fünften Klasse. Das heißt: Bis zur siebten Klasse lernen maximal zwölf Kinder in einer Stammgruppe – ganz gleich ob hochbegabt, gehandicapt oder "Regelschüler". Statt wechselnder Lehrkräfte für unterschiedliche Fächer haben die Schülerinnen und Schüler einer Stammgruppe möglichst eine Lehrerin oder einen Lehrer für alle Fächer. "So können wir die Kinder viel besser kennenlernen, ihren Bedürfnissen gerecht werden und sie intensiv begleiten, als von Klasse zu Klasse und von Raum zu Raum springen zu müssen. Wie soll man da jedes Kind kennen?", erklärt Wolfram Otto, Koordinator der Stufen fünf bis sieben.

Auf dem Stundenplan von Anne Wendes Stammgruppe steht Kunst, aber nicht nur für ein oder zwei Stunden, wie an den meisten Schulen üblich, sondern den ganzen Tag, eine ganze Woche lang. Ziel dieses ungewöhnlichen Ansatzes ist es, den Kindern zu ermöglichen, sich mit einer Aufgabenstellung in Ruhe und ausführlich auseinandersetzen zu können und nicht nach 45 Minuten den Tuschekasten und die Pinsel bis zur nächsten Woche wegräumen zu müssen. Diese Kunstwochen haben die Martinschülerinnen und -schüler mehrmals im Jahr. Das aktuelle Thema heißt "Die Kunst der Zeichnung". Mit leiser, ruhiger Stimme erklärt Anne Wende den Kindern, was eine Parallel-, was eine Kreuzschraffur ist. Liam* und Jolina sind lauter als die Lehrerin, sie kippeln mit dem Stuhl, stehen auf, setzen sich wieder hin, spielen mit dem Lineal, triezen sich gegenseitig. Anne Wende ist gelassen und lässt das Duo gewähren. Nur Schimpfwörter sind nicht erlaubt.

Neben der Lehrerin sind noch zwei weitere Erwachsene im Klassenraum: zwei Integrationshelferinnen, die zwei Kindern mit geistiger Beeinträchtigung zur Seite stehen. Eines von ihnen ist Marlene. An der Martinschule hat jedes Kind seinen eigenen Lernplan, mit dem es die Aufgaben für die Woche plant und umsetzt. Marlene helfen kleine Bilder im Lernplan bei der Orientierung, richtig lesen kann sie noch nicht.

Ihr Wochenziel: Buchstaben erkennen und Mengen erfassen. Die Fünftklässlerin malt mit Filzstiften das Deckblatt ihres Arbeitsheftes aus, während die anderen Kinder mit Bleistift und Kohle selbst unterschiedliche Schraffuren ausprobieren.

Als Marlene fertig ist, steht sie auf und unterbricht ihre Klassenkameradinnen beim Zeichnen: "Guckt mal", sagt sie und zeigt ihr buntes Bild. "Oh, cool, schön hast du das gemacht", sagt ein Mädchen, und die anderen am Tisch lächeln zustimmend. Marlene freut sich über die Wertschätzung und setzt sich zurück zu ihrer Integrationshelferin, von denen insgesamt 60 an der Martinschule arbeiten, und malt weiter. Die Mädchen vertiefen sich wieder in ihre Zeichnungen. Währenddessen setzt sich Anne Wende zu Jolina und Liam und erklärt ihnen auf Augenhöhe, was zu tun ist. Die beiden arbeiten kurz mit, stehen auf und sagen: "Wir brauchen jetzt eine kurze Pause." Sie rennen über den Flur, bis Jolina sagt: "Komm, wir müssen zurück, sonst gibt es Ärger."

Die beiden Kinder benötigen Förderung im emotionalen und sozialen Bereich. Fast die Hälfte der 550 Schülerinnen und Schüler an der Martinschule hat sonderpädagogischen Förderbedarf – ein Wert, der weit über dem mecklenburgvorpommerischen Landesdurchschnitt von 10,8 Prozent für das Schuljahr 2015/16 liegt. Parallel sind an der Martinschule die Ergebnisse der VERA-Vergleicharbeiten, der – zentralen Abiturklausuren und die Abschlussergebnisse der mittleren Reife seit Jahren besser als der Landesdurchschnitt. Jede Schülerin und jeder Schüler verlässt die Martinschule mit einem "Abschluss" – auch Marlene wird später ein schulinternes "Abschlusszeugnis" bekommen.

Doch zuvor profitiert sie von dem jahrgangsübergreifenden, neu entwickelten Lernkonzept, das auf drei Säulen basiert: In der Schülerfirma "Häppchen & Co" bereiten die älteren Schülerinnen und Schüler für die Kinder der Grundschule täglich ein Frühstück zu und lernen dabei den Umgang mit Geld, den Erwerb und die Zubereitung von Lebensmitteln. Beim Projekt "Wohnungstraining" erfahren und trainieren die Jugendlichen Selbstwirksamkeit und Teilhabe für den Alltag. In einer extra angemieteten Vierraumwohnung waschen sie Wäsche, decken den Tisch, gestalten die Zimmer und halten sie sauber. Außerdem hat die Martinschule einen Teil einer alten Kaufhalle in ein Abschlussstufenzentrum umbauen lassen, damit die Jugendlichen auf ihr Leben nach der Schule vorbereitet werden.

Der Blick hinter die Türen der Martinschule zeigt: Was hier passiert, ist alles andere als typisch, gewöhnlich oder gar erwartbar. Wer besser verstehen will, dass diese Schule Außergewöhnliches leistet, muss auch ihr Umfeld und ihre Geschichte anschauen. Die Martinschule steht im Greifswalder Stadtteil Schönwalde I. Doch der Name trügt. Hier ist kein Wald zu sehen und die Schönheit des Viertels erschließt sich auch nicht auf den ersten Blick. Nur die Möwen am Himmel verraten mit ihrem Kreischen, dass die Ostsee nicht fern ist.

Schönwalde I ist eine klassische Plattenbausiedlung, wie sie zu DDRZeiten in fast allen ostdeutschen Städten entstanden ist. Als 1973 im nur wenige Kilometer entfernten Kernkraftwerk Lubmin der erste Reaktor in Betrieb ging, brauchte Greifswald dringend Wohnraum für die Mitarbeiter und deren Familien. Mehr als vier Jahrzehnte später ist das einst größte Atomkraftwerk der DDR stillgelegt, nur die Straßen in Schönwalde I erinnern noch an die Vergangenheit: Ihre Namen sind Lomonossowallee oder Kurtschatowweg, benannt nach Physikern und Chemikern. Auch das Grau der Stahlbetonplatten ist längst übermalt, die Wohnhäuser sind saniert und nur vereinzelt erzählen überlebensgroße Wandgemälde von der sozialistischen Vergangenheit. Der Wohnraum ist günstig, rund 5,40 Euro kostet hier der Quadratmeter für eine Mietwohnung. In Schönwalde I wohnen Rentner, Studenten, Geringverdiener und Menschen mit Migrationshintergrund.

Während der DDR-Zeit galten geistig behinderte Kinder als "schulbildungsunfähig". Staatliche Schulen, die auf ihre Bedürfnisse abgestimmt waren, gab es schlichtweg nicht. Deshalb übernahm in Greifswald diese Aufgabe die Johanna-Odebrecht-Stiftung und eröffnete 1976 eine Fördertagesstätte für Kinder mit Beeinträchtigungen in der geistigen Entwicklung.

Mit der Wende bekamen diese Kinder und Jugendlichen ein gesetzlich verankertes Recht auf Bildung – und die Odebrecht-Stiftung erhielt 1992 die Genehmigung, eine "Schule zur individuellen Lebensbewältigung", eine Schule für geistig Behinderte, zu gründen. "Eine Finanzierung für einen Schulneubau wäre damals möglich gewesen", sagt Schulleiter Benjamin Skladny, der von Anfang an bis heute die Martinschule maßgeblich geprägt hat. Doch die Entscheidung fiel bewusst gegen einen Neubau irgendwo am Rande der Stadt: Die neue Schule, die erst 1994 ihren Namen Martinschule erhielt, zog in die Räume einer ehemaligen Kindertagesstätte mitten in Schönwalde I, dorthin, "wo alle uns sehen können", sagt Skladny.

Seit damals ist viel passiert. Das Gebäude der Kita wurde von Grund auf saniert und auf dem Außengelände wichen die Betonplatten einem großzügigen Spielplatz, der für Skladny ganz selbstverständlich, für alle Kinder des Stadtteils zugänglich ist, nicht nur für die Schülerinnen und Schüler der Martinschule. Zehn Jahre nach der Gründung wurden die Räume zu klein und die Martinschule bezog 2002 das nächste Gebäude in unmittelbarer Nachbarschaft – das Schulhaus Typ Rostock. Mit dem Einzug folgte die Erweiterung des schulischen Angebots: Neben der bereits bestehenden Schule zur individuellen Lebensbewältigung wurden im selben Haus eine Grundschule und ein Schulhort gegründet – die Geburtsstunde des Evangelischen Schulzentrums Martinschule. Vier Schuljahre später folgte der nächste große Schritt: Ab sofort war, dank der Ergänzung um den Bildungsgang einer Integrierten Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe, auch das Abitur an der Martinschule möglich.

Während manche Bildungspolitiker die Inklusion für gescheitert halten, beweist die Martinschule, dass ihr außergewöhnliches Inklusionsmodell funktioniert: Jahre bevor die UN-Behindertenrechtskonvention 2008 in Kraft trat und sich die Unterzeichnerstaaten auf einen gemeinsamen Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderung verständigten, ging die Martinschule den Weg der Inklusion – und zwar umgekehrt. Die ursprünglich ausschließlich für Kinder mit geistiger Behinderung gedachte Schule öffnete sich nach außen und holte Regelschülerinnen und -schüler zu sich. Mit diesem Ansatz verfolgen Skladny und sein Team ein hehres Ziel: Sie wollen zwei Schulen – eine Regelschule und eine für Kinder und Jugendliche mit geistigen Beeinträchtigungen – zu einer guten Schule für alle verschmelzen. Ein Ziel, das sich nicht einfach eines Tages als erledigt abhaken lässt, sondern konsequente Weiterentwicklung der pädagogischen Qualität erfordert. Ein Ziel, das die Schule selbstbewusst auch in ihrem Leitbild verankert hat: "Wir machen Schule – evangelisch, weltoffen, inklusiv, reformpädagogisch, ganztägig".

Ein Ziel, das nicht unumstritten ist im Kollegium. Stufenkoordinator Wolfram Otto weiß das nur zu gut. Er hat das Konzept der Stammgruppen mitkonzipiert und umgesetzt. Seine Pläne, dieses Konzept zukünftig auf die Stufen acht und vielleicht neun zu übertragen, stößt auch auf Widerstand. Skeptiker gab es bereits bei der Umsetzung der Idee in den Stufen fünf bis sieben, doch der Erfolg ließ viele Kritiker verstummen. Die Martinschule schafft Raum und Zeit für regelmäßige Teamgespräche – dann können die Lehrerinnen und Lehrer Sorgen loswerden, Kritik ansprechen, und Wolfram Otto hat Gelegenheit, seine Kolleginnen und Kollegen zu beraten, zu unterstützen und von seinen Ideen zu überzeugen. Otto brennt für das Konzept des gemeinsamen Unterrichts in kleinen Gruppen und steckt mit seinem Elan und seiner Begeisterung auch die Kolleginnen und Kollegen an. Ottos Idee war es auch, die vier Etagen des Schulgebäudes Typ Rostock den einzelnen Klassenstufen zuzuordnen.

Ganz oben arbeiten die Kinder der Klassenstufe sieben, die dritte Etage gehört der Stufe sechs, die zweite Etage ist der Bereich für den fünften Jahrgang und im Erdgeschoss sind Lehrerzimmer, Sekretariat und Fachräume untergebracht.

Benjamin Skladnys Büro ist immer noch in der ehemaligen Kindertagesstätte, die heute den Grundschulteil der Martinschule beherbergt und wo vor mehr als einem Vierteljahrhundert alles angefangen hat. Zeit zum Unterrichten hat er nicht mehr, die Leitung der Martinschule nimmt Benjamin Skladny ganz in Anspruch. Er sitzt schon an den nächsten großen Plänen für die Schule. Er träumt von der Gründung einer Kindertagesstätte, von einem eigenen Schullandheim und von einer eigenen Turnhalle. Die Martinschule ist zwar über drei Gebäude in Schönwalde I verteilt, eine eigene Halle für den Sportunterricht hat sie bislang aber nicht. Noch lange bevor der erste Spatenstich gemacht ist, fragen schon die ersten Vereine an, ob sie die Halle auch nutzen dürfen. Klar, sagt Benjamin Skladny. Die Martinschule ist eine Schule für alle – dort, wo alle sie sehen können.

* alle Schülernamen von der Redaktion geändert

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Im Büro von Schulleiterin Nicole Schäfer herrscht an diesem Dienstagmorgen keine fünf Minuten Ruhe. Immer wieder steckt jemand seinen Kopf zur Tür herein und fragt, ob er nach Berlin mitkommen könne, wenn am 14. Mai der Deutsche Schulpreis verliehen wird. Schließlich ist ihre Schule, die Franz-Leuninger-Schule in Mengerskirchen, nominiert. Mehr als 40 Leute stehen inzwischen auf der Liste für die Fahrt zur Preisverleihung: Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Referendarinnen, Eltern, Großeltern. Auch der Hausmeister und seine Frau wollen mitfahren; sogar der Bürgermeister der Gemeinde mit knapp 6.000 Einwohnern am Rand des Westerwalds. Also hat Nicole Schäfer einen Reisebus gemietet.

Für Schäfer und die Schule ist es ein Erfolg, dass so viele Mengerskirchener mit nach Berlin fahren wollen. Es zeigt, wie stark die Schule in der Kommune verankert ist. "Wir arbeiten seit Jahren daran, dass alle im Ort sich für die Schule verantwortlich fühlen", sagt sie. Seit zehn Jahren halten sie sich hier an ein Motto, das auf ein afrikanisches Sprichwort zurückgeht: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.

Früher seien vor allem sozial schwache Familien nach Mengerskirchen gezogen, sagt Schäfer. "Wir merkten, dass unsere Schule zwar ganz gut war, aber nicht gut genug für alle Kinder." Deshalb haben sie sich an anderen Schulen umgeschaut und Ideen mitgenommen. Seit 2005 hat die Schule ein Ganztagsangebot und ist täglich von 7 bis 16.30 Uhr geöffnet. Auch das Prinzip der Jahrgangsteams haben sie damals eingeführt. Die Klassenlehrer jedes Jahrgangs und ein Förderlehrer erarbeiten ein gemeinsames pädagogisches Konzept und bereiten den Unterricht zusammen vor.

Die Schule besteht aus drei Flachbauten, von denen einer erst 2013 gebaut worden ist. Die anderen beiden Gebäude wurden damals saniert. Aus großen Fenstern kann man in die hügelige Landschaft schauen, die Klassenzimmer sind hell, auf den Fluren hängen großformatige Fotografien, die Schülerinnen und Schüler zeigen. Für jeden der vier Jahrgänge wurde ein Arbeitsflur eingerichtet, von dem die Klassenzimmer abgehen. Auf "ihrem" Flur können die Kinder eines Jahrgangs zusammen lernen, Referate vorbereiten oder Experimente durchführen. Nachmittags können sie sich selbst Bücher, Stifte oder Geodreiecke nehmen, alles was sie für die Hausaufgaben brauchen.

Auch bei der Personalausstattung der Schule hat sich Nicole Schäfer an das afrikanische Sprichwort gehalten und die Arbeit auf viele Schultern verteilt. Mittlerweile gehören 20 Lehrkräfte zum Team, eine Erzieherin und eine Sozialpädagogin. Hinzu kommen eine Psychologin, eine Ergotherapeutin und eine Logopädin. In jeder Klasse gibt es zudem eine Assistenzkraft, die den Lehrerinnen und Lehrern über die gesamten vier Schuljahre hinweg in jeder Unterrichtsstunde zur Seite steht. Assistenten sind 450-Euro-Jobber aus der Region – Frauen, die wieder arbeiten wollen, nachdem die Kinder aus dem Haus sind, Männer, wie ein ehemaliger Metzgermeister, die nach dem Berufsleben noch etwas tun wollen. Offiziell hat die Schule nur 14 Planstellen, das Geld für die zusätzlichen Stellen erwirtschaftet sie selbst. Einige werden aus dem Budget für Krankheitsvertretung bezahlt, das nicht ausgeschöpft wird, weil kaum jemand länger krank ist.

In der Klasse 3a sitzen die Kinder gerade im Kreis um ihre Lehrerin Cornelia Fritz. "Was nehmt ihr euch heute vor?", fragt sie zu Beginn der individuellen Lernzeit. "Ich will versuchen, in Mathe drei Kronen zu schaffen", sagt Jonathan*. "In Deutsch mache ich eine Krone, das kann ich noch nicht so gut." Und Sachkunde? Jonathan will später mit zwei Klassenkameraden das Experiment mit den Eisenspänen durchführen. Die Anzahl der Kronen bezeichnet den Schwierigkeitsgrad einer Aufgabe. Nach zehn Minuten hat jedes Kind seine Pläne vorgestellt und es kann losgehen. Die folgende halbe Stunde arbeiten die Kinder leise und konzentriert.

Es gehört zum Konzept der Franz-Leuninger-Schule, dass die Kinder lernen, sich selbst einzuschätzen, ihre Stärken zu erkennen, aber auch ihre Schwächen. Um jedes Kind individuell zu fördern, bieten alle Lehrerinnen und Lehrer in ihrem Unterricht Aufgaben in drei Kompetenzstufen an. "Wir wollten einfach nicht länger zusehen, wie es für bestimmte Kinder immer weiter bergab ging", sagt Nicole Schäfer. Bildungschancen würden in Deutschland noch immer viel zu sehr von der sozialen Herkunft der Kinder abhängen. An ihrer Schule bekommen auch jene eine Chance, die anderswo als unbeschulbar galten.

Nicole Schäfer ist 48, eine zierliche Frau mit langen, braunen Haaren. Wenn sie durch den Ort geht, zum Bäcker oder zum Friseur, wird sie ständig angesprochen. Alle hier kennen die Schulleiterin. Während andere Kollegen lieber etwas weiter weg leben, um nachmittags Abstand zur Schule zu haben, würde sie am liebsten im Schulhaus wohnen, so wie es früher auf dem Land üblich war. Schließlich möchte sie mitreden, wenn es um Entscheidungen der Kommune geht. Das klappt besser, wenn man bekannt und nah dran ist.

Immer mehr Eltern wollen ihre Kinder in Mengerskirchen einschulen. So ist es der Gemeinde im Westerwald gelungen, sich gegen den deutschlandweiten Trend zur Landflucht zu stemmen. Statt wegzuziehen, pendeln viele Eltern zur Arbeit, damit ihre Kinder an der hiesigen Grundschule lernen können. Andere, die Mengerskirchen einst verlassen haben, um irgendwo zu studieren, kehren zurück, wenn sie Kinder bekommen. In der Gemeinde, zu der fünf Ortsteile gehören, werden die Wohnungen langsam knapp. Bürgermeister Thomas Scholz (CDU) ist froh über diese Entwicklung und unterstützt die Schule. Wie viele Mengerskirchener, darunter Unternehmer und ein Pfarrer, ist auch er Mitglied im "Bildungsforum Mengerskirchen", das Nicole Schäfer und ihr Kollegium einst ins Leben gerufen haben. Dort wird über alles entschieden, was mit Kinderbetreuung und Bildung zu tun hat. Jüngst haben sie Geld für ein Jugendhaus bereitgestellt.

Nicole Schäfer ist nicht nur Schulleiterin, sondern auch Klassenlehrerin der 1a. "Ich unterrichte einfach gern", sagt sie. Vor Jahren war sie selbst Schülerin der Franz-Leuninger-Schule, später hat sie dort ihr Referendariat gemacht und kurz als Lehrerin gearbeitet, bevor sie 1999 die Leitung übernahm. Diese Kontinuität ist Teil des Erfolgsgeheimnisses der Schule. "Wir haben hier sehr unterschiedliche Schülerinnen und Schüler, Verlässlichkeit und Rituale sind deshalb äußerst wichtig", sagt sie.

Am Nachmittag kommt auch Henry aus der 4a noch zu Nicole Schäfer ins Schulleiterzimmer. Er will wissen, ob es stimmt, dass die Schule ihm Geld dazugeben würde für die Fahrt nach Berlin. Nicole Schäfer freut sich, dass Henry dabei sein möchte. "Wir kriegen das schon hin" sagt sie.

* alle Schülernamen von der Redaktion geändert

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"Ist das ein archimedischer oder ein platonischer Körper?" Anna Kaiser steht lächelnd vor 29 Sechstklässlern und hält einen schwarzweißen Fußball in die Höhe. "Ein archimedischer", antwortet die elfjährige Sophia*, ohne zu zögern. "Ganz genau!", bestätigt die Mathe-Referendarin und will nun wissen, wie sich ein archimedischer von einem platonischen Körper unterscheidet. Lennox meldet sich und erklärt, ohne lange nachzudenken, dass platonische Körper immer aus der gleichen Sorte von Vielecken bestehen und sich archimedische Körper aus unterschiedlichen Vielecken zusammensetzen. Der Fußball eben aus Fünfecken und aus Sechsecken.

Höhere Geometrie? Ist das der reguläre Matheunterricht einer sechsten Klasse? Ja und nein. Am Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium in Münster können sich Kinder freiwillig im Mathe-Erweiterungsprojekt ausprobieren. Mitmachen dürfen alle, die es sich zutrauen. "Uns ist wichtig, dass sich die Kinder selbst melden", erzählt Beate Dreseler, die das Projekt auf den Weg gebracht hat. Nach einem Drehtürmodell gehen die Schülerinnen und Schüler eines sechsten Jahrgangs eine Stunde in der Woche aus dem regulären Matheunterricht raus und treffen sich im Erweiterungsprojekt. Den Stoff, den sie verpassen, müssen sie selbständig nacharbeiten. "Dabei helfen ihnen Infopaten, die sie sich selbst aussuchen dürfen", sagt Dreseler.

Die Drehtür funktioniert nicht nur in Mathe. Das Gymnasium, das ganz zentral in der Münsteraner Altstadt liegt, hat auch gute Erfahrungen mit zusätzlichem Fremdsprachenunterricht gemacht. Sprachtalente können parallel zur zweiten gleich die dritte Fremdsprache erlernen. Latein und Französisch, Französisch und Spanisch oder Latein und Spanisch. Die Schule ermöglicht alle Kombinationen. Der Schüler oder die Schülerin besucht zwar zwei Kurse, ist aber nur jeweils in der Hälfte der Lernzeit vor Ort. Was verpasst wird, muss ebenfalls mit Infopaten nachgeholt werden. Was sich für Außenstehende nach Eliteförderung anhört, hat in erster Linie aber ein anderes Ziel. "Wir wollen, dass die Kinder zufriedener sind", sagt Dreseler. Im regulären Unterricht fingen die leistungsstarken Kinder an, sich zu langweilen.

"Es macht Spaß, immer schwierigere Aufgaben zu rechnen!", ist Linus’ Antwort auf die Frage, was am Extra-Matheunterricht so toll sei. "Außerdem ist es klasse, die Sachen auch mal vor Augen zu haben", sagt Simon. Stolz zeigt er auf einen selbstgebastelten Fußball. Denn Mathe bedeutet hier auch Praxis. Ausgestattet mit Zahnstochern und eingeweichten Erbsen, durften die Kinder heute selbst platonische und archimedische Körper zusammenstecken. Entstanden sind die unterschiedlichsten fragilen Gebilde. Geometrie zum – vorsichtigen – Anfassen.

Auch in der Oberstufe ist Begabungsförderung am "Annette" kein reiner Selbstzweck. Die Lernenden im Chinesisch-Kurs der zwölften Klasse erhoffen sich durch ihre exotischen Sprachkenntnisse bessere Chancen auf einem globalisierten Arbeitsmarkt. "Immer mehr Firmen suchen nach Leuten, die auch im Ausland arbeiten können", erzählt die 17-jährige Johanna. Und Max fügt hinzu: "Ich möchte gerne international arbeiten können, und da ist es bei Verhandlungen wichtig, auch etwas über andere Kulturen zu wissen." Umgangsformen kennen und sich im Alltag chinesischer Metropolen zurechtfinden – neben der Sprache sind das wichtige Ziele des Chinesischunterricht am "Annette". Heute hat der Sinologe Martin Kittlaus Stadtpläne von Beijing mitgebracht. "Die ringförmig angelegten Straßen umkreisen alle das Zentrum der Stadt. Dort befindet sich der Kaiserpalast. Für die Mitte gibt es im Chinesischen eine eigene Himmelsrichtung", erklärt Kittlaus, der die Weltsprache vor 15 Jahren an die Münsteraner Schule brachte. Alle Ortsnamen mit "zhong" orientierten sich an dieser Mittelachse. Und kenne man erst mal die anderen Himmelsrichtungen, gingen seine Schülerinnen und Schüler in der Hauptstadt des "Reichs der Mitte" nicht so schnell verloren. "Dōng, nán, x , běi", sprechen die Sprachtalente nach. Für Max kein Problem. Chinesisch ist seine fünfte Fremdsprache.

Und jene, die nicht zu den Überfliegern gehören? "Es ist uns wichtig, alle mitzunehmen!", betont Schulleiterin Anette Kettelhoit. "In unserem Leitbild spielt das schöne Wort ‚Herzensbildung‘ eine wesentliche Rolle. Das leben wir an unserer Schule." Jeder und jedem Einzelnen Wertschätzung entgegenzubringen heißt auch, alle individuell zu fördern. Für Siebt- bis Neuntklässler, die eher einen schwierigen Start am Gymnasium hatten, bietet die Schule ein Lerncoaching an. "Wir führen mit den Schülern Beratungsgespräche und versuchen, ihre Ressourcen neu zu wecken", erklärt Annika Köhler die Methode. Wichtig sei, erst mal herauszufinden, woran es eigentlich hakt, so die Englisch- und Spanischlehrerin. Hat das Kind Prüfungsangst, ist es schüchtern oder gibt es Probleme in der Familie? Sei man einmal im Gespräch, könnten dann kleine Ziele vereinbart werden, die dem Kind wieder Erfolgserlebnisse verschafften.

Mehr Luft bis zum Abi. Das würde gerade diesen Kindern helfen, wieder mehr Spaß am Lernen zu bekommen. In Zukunft werden die "Annette"-Schülerinnen und -Schüler diese Chance wieder bekommen. "Wir haben uns entschieden, zu G9 zurückzukehren", so Wolfhart Beck, Leiter der Steuerungsgruppe für die Schulentwicklung des Gymnasiums. Die Herausforderung wird sein, allen Schülerinnen und Schülern unter den neuen Vorzeichen gerecht zu werden. Die Schnelllerner haben durch das sogenannte begleitete Springen auch künftig die Chance, die Schule schon nach acht Jahren zu verlassen. "Um eine Klasse zu überspringen, bekommen die Kinder gezielten Förderunterricht, in dem der Stoff vorgezogen wird, damit keine Wissenslücken entstehen", erklärt Dreseler das Konzept.

Unter G9 wird auch eines der zentralen Ziele der künftigen Schulentwicklung leichter zu realisieren sein. Lehrer- und Schülerschaft wünschen sich noch mehr binnendifferenzierte Unterrichtsformen. Vorbild ist das Café Lingua. In der achten Jahrgangsstufe haben alle Kinder in ihrer zweiten Fremdsprache eine Selbstlernstunde. "Das Besondere ist, dass sich Französisch-, Spanisch- und Lateinschüler mischen. Sie entscheiden selbst, ob sie in der Stunde in ihrem Tempo alleine Vokabeln lernen oder sich im Partner- oder im Gruppenarbeitsraum mit anderen zusammentun", erklärt Janne Schlöder die Unterrichtsmethode.

Sind die Pflichtaufgaben erledigt, folgt die Kür. Im Wahlbereich dürfen die Sprachschüler eigene Projekte realisieren. "Dabei sind schon ganz tolle Sachen herausgekommen", erzählt Lateinlehrerin Schlöder stolz. Eine Gruppe aus Französisch- und Spanischlernenden hat gemeinsam ein Brettspiel entworfen, und ein Team hat einen Film in französischer und lateinischer Sprache gedreht, der mit deutschen Untertiteln versehen wurde. Letztlich sei aber nicht die Größe des Projekts entscheidend, betont Annika Köhler. Die Schülerinnen und Schüler sollen durch das selbstbestimmte Lernen spüren, dass es am Ende besser geworden ist. Die Projekte werden vor der siebten und achten Stufe in der Aula präsentiert. "Der Applaus ist motivierender als eine Note", ist Köhler überzeugt. Die gibt es nämlich nicht im Café Lingua.

Es klingelt. Die kleinen Mathe-Könner aus der sechsten Klasse packen schnell ihre Sachen zusammen und versuchen, ihre Kunstwerke heil nach Hause zu befördern. Für noch mehr Fragen ist keine Zeit. Sie wollen raus in die Pause. Eine Runde archimedische Körper kicken.

* alle Schülernamen von der Redaktion geändert

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„I got the Eye of the Tiger“, der Hit von Katy Perry schallt durch die Turnhalle. Fast hundert Mädchen stehen auf der Bühne. Sie tragen selbstgebastelte Tiermasken: Löwen, Elefanten, Pandabären, Vögel, Tiger – alles ist vertreten. „’Cause I am a Champion. And You’re gonna hear me roar“, singen sie laut und selbstbewusst. Es sind Schülerinnen der Anne-Frank-Realschule, einer Schule nur für Mädchen in München-Pasing. „Wir begrüßen Sie zu dem ersten Präsentationsabend der fünften Klassen, mit dem wir Ihnen zeigen wollen, wie Ihre Kinder die Biologie entdecken“, empfängt Schulleiterin Eva Espermüller-Jug die rund 200 Eltern, Großeltern und Geschwister. Drei Tage lang haben die Mädchen der 5a, 5b und 5c im Münchener Tierpark Hellabrunn Säugetiere und Vögel beobachtet und deren Gehege skizziert. Nun präsentieren sie stolz die Ergebnisse ihrer Forschungen.

Mädchen für Mathematik, Naturwissenschaften und Technik zu begeistern, das ist das Ziel der Anne-Frank-Realschule. Rektorin Eva Espermüller-Jug sagt: „Wir wollen Mut machen, die Mädchen sollen bei uns ihre Kompetenzen entdecken.“ Dazu binden die Lehrer auch die Mütter ein: „Wir erklären ihnen, dass sie ihre Töchter nicht darin bestärken sollten, sie könnten kein Mathe – weil sie selbst Schwierigkeiten mit dem Fach hatten“, erklärt die Rektorin, selbst Mathelehrerin. Immer wieder bekommen die Mädchen die Chance, sich auch außerhalb der Klassenzimmer auszuprobieren: zum Beispiel beim Technik-Parcours in der fünften Klasse, während der Chemie- und Physik-Tage an der Ludwig-Maximilians-Universität oder beim Projekt „Lernen durch Lehren“, bei dem Neuntklässlerinnen drei Tage lang Versuche mit Kindergarten- und Grundschulkindern machen.

Die Naturwissenschaften sind an der Anne-Frank-Schule keine Hass-Fächer, sondern offenbar extrem attraktiv: Die Hälfte eines Jahrgangs, rund 50 Mädchen, entscheidet sich nach der sechsten Klasse für Naturwissenschaften als Wahlpflichtfach. Als Eva Espermüller-Jug vor 14 Jahren die Schulleitung übernahm, waren es nur sieben bis acht. Und 28 Prozent der Schülerinnen beginnen nach der Mittleren Reife eine technische Ausbildung. „Damit erhöhen wir den Schnitt für ganz Bayern drastisch“, sagt Physik-Lehrerin Claudia Herr stolz. Wenn sie Projekte anbietet, achtet sie immer darauf, dass auch Frauen dabei sind – als Vorbilder für ihre Schülerinnen. In der neunten Klasse müssen alle Mädchen ein Praktikum in einem technischen Beruf machen, egal für welches Wahlpflichtfach sie sich entschieden haben. „Nur wer es probiert, kann sagen: Ich mag oder kann das nicht“, erklärt Schulleiterin Espermüller-Jug. „Ich war in der Fahrzeuglackiererei, zusammen mit den Azubis. Das war voll cool“, erzählt Yvonne Kupfer aus der 9b. Sie hat Französisch als Wahlpflichtfach. Die 15-Jährige geht erst seit gut einem Jahr auf die Anne-Frank-Realschule, vorher war sie auf dem Gymnasium. Als ihre Mutter schwer krank wurde und sie nicht mehr unterstützen konnte, kam Yvonne nicht mehr mit. Sie rutschte in Mathe und Englisch ab, ihre Versetzung war gefährdet.

„Ich bin immer mit Druck im Magen in die Schule, wie eine Maschine. Wenn ich nachmittags nach Hause kam, konnte ich mich nur noch hinlegen. Ich dachte: Ich bin zu dumm“, erzählt sie. Ihre Mutter Iris von Zastrow machte sich große Sorgen: „Yvonne hatte permanent Bauchschmerzen, sie war in einem erbärmlichen Zustand. Ich werde immer noch ganz sauer, wenn ich darüber nachdenke.“

Iris von Zastrow setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um für ihre Tochter einen Platz an der Anne-Frank-Realschule zu bekommen. „Ich hatte gleich einen tollen Eindruck, die Mädchen lernen hier für sich, nicht für die Schule.“ Nicht nur Yvonnes Noten sind besser geworden, viel wichtiger für ihre Mutter ist: „In den letzten 14 Monaten hat sich meine Tochter vom grauen Mäuschen zu einem normalen, gesunden und robusten Teenager gewandelt.“ Yvonne ist Klassensprecherin der 9b und hat neue Freundinnen gefunden. Solche Geschichten hört man an der Anne-Frank-Realschule immer wieder.

„Eigentlich wollte ich nicht auf eine Mädchenschule“, erzählt Yvonne. Sie trägt einen Strickpulli mit der Aufschrift „Hollywood“ aus Pailletten. „Ich dachte, da gibt es nur Gezicke. Aber es ist ganz anders. Hier herrscht nicht so ein Konkurrenzkampf. An meiner alten, gemischten Schule waren die Mädchen sehr aufgetakelt, es wurde viel gelästert. Am Anfang fiel mir richtig auf, dass die blöden Sprüche der Jungs fehlen. Die schmeißen einem Schnipsel in den Ausschnitt und machen einen runter, wenn man was Falsches sagt.“

Etwa hundert Mädchenschulen gibt es heute in Deutschland, vier davon in München. Gegründet wurden sie in einer Zeit, als nur Jungen das Recht auf gute Bildung hatten. Sogenannte höhere Töchterschulen sollten diese auch Mädchen ermöglichen. So wichtig Mädchenschulen früher waren, heute scheinen sie überholt. Dass Jungen im Unterricht bevorzugt werden, ist heute kaum noch denkbar – schließlich gelten sie als die neuen Bildungsverlierer. Mädchen brauchen keinen Schonraum mehr. Oder etwa doch? „Die Jungs fehlen uns für soziale Kontakte, aber nicht im Unterricht“, sagt die 15-jährige Clara. „Wir können uns besser konzentrieren, weil hier keine Jungs sind, die lästern: ‚Wie dumm bist du eigentlich!‘ Das hat mich früher sehr verunsichert.“ Sophia, 15, sagt: „Hier gibt es auch Konflikte, die Mädchen reden ein bisschen viel und manche lachen auch mal, wenn eine etwas falsch macht.“ Mit ihren hellblond gefärbten, kurzen Haaren fällt die Schulsprecherin unter all den langhaarigen Mädchen auf. „Aber hier muss man sich nichts gefallen, muss sich nicht schminken. Wir sind freier.“

„Es gibt sehr viel Evidenz, dass Mädchen sich im naturwissenschaftlichen Unterricht eher zurückziehen und den Jungen das Feld überlassen: Macht ihr mal“, sagt Bettina Hannover, Psychologin und Professorin für Schul- und Unterrichtsforschung. „Dafür dominieren sie in den Sprachen. In getrennten Gruppen greifen Geschlechterstereotype weniger.“ Als Mitglied der Schulpreis-Jury hat sie die Anne-Frank-Realschule zwei Tage lang inspiziert. Lange hat die Jury diskutiert, ob eine reine Mädchenschule den Hauptpreis bekommen kann. Selbstverständlich sei die Arbeit mit Mädchen einfacher, weil die meisten disziplinierter seien als Jungs, meinte ein Mitglied. Was da wohl für Rollenbilder vermittelt würden, wollte ein anderes wissen. Am Ende entschieden sich die Experten ohne Gegenstimme für die Anne-Frank-Realschule. Sie stellen ihr in allen sechs Kriterien ein hervorragendes Zeugnis aus und sind sich einig: Gemischte Schulen können sich einiges von ihr abgucken. Nicht nur guten Unterricht, sondern die gesamte Lernstruktur der Schule, die aus kleinen, stabilen Gruppen besteht. Je nach Wahlpflichtfach sind die Mädchen auf drei Lernhäuser aufgeteilt, die nach Frauenpersönlichkeiten benannt wurden: Die Naturwissenschaftlerinnen haben ihre Klassenzimmer im Lernhaus „Rosalind Franklin“. „Science and everyday life cannot and should not be separated“ steht als Zitat der Wissenschaftlerin, die einen wesentlichen Beitrag zur Entschlüsselung der DNA-Struktur geleistet hat auf der lindgrünen Wand im zweiten Stock. Die Französisch-Schülerinnen gehen in das rote Lernhaus „Niki de Saint Phalle“. Und die Mädchen, die Sozialwesen als Wahlpflichtfach wählen, ins blaue „Rosa Parks“-Lernhaus.

Zweimal in der Woche arbeiten die Mädchen in altersgemischten Gruppen an Aufgaben aus den Fächern Englisch, Deutsch und Mathematik. Dazu buchen sie sich selbständig über das Internet für einen Raum und eine Fachlehrerin ein. In den sogenannten Lernbüros lernen sie dann völlig frei in ihrem Tempo. Bedingung: Nicht mehr als drei Schülerinnen aus einer Stufe sitzen gleichzeitig in einem Lernbüro.

Dienstagmorgen, erste Stunde: Im Lernbüro Englisch sitzen 13 Schülerinnen. Einige haben die Laptops vor sich aufgeklappt, manche haben Kopfhörer in den Ohren. Eine Ältere korrigiert am Laptop Sätze mit If-Clauses. Eine andere übt Vokabeln. Es herrscht eine ruhige, konzentrierte Atmosphäre. Ab und zu steht ein Mädchen auf, geht zu den fünf Gestellen mit roten, grünen, gelben und blauen Hängeregistern, die an der Rückwand auf Tischen stehen, und sucht sich das passende Arbeitsmaterial heraus. Am Ende des Halbjahres müssen die Mädchen zwölf Bausteine geschafft haben. Ihre Fortschritte notieren sie in ihrem Logbuch. Ein älterer Herr mit weißem Haar, Strickjacke und Krawatte geht von Pult zu Pult und schaut den Mädchen über die Schulter. Peter Vollmar ist mit seinen 75 Jahren längst pensioniert und könnte Tennis spielen gehen. Aber er arbeitet lieber. „Logbuch, Lernbüro – das kannte ich alles nicht“, erzählt er. Der Englischlehrer wollte wissen: Wie geht das? „Ich war skeptisch“, gesteht er. „Aber ich bin verblüfft, wie gut es funktioniert. Die Schülerinnen sind ihren Altersgenossen weit voraus.“

Plötzlich gehen zwei Mädchen raus. Auf dem Flur setzen sie sich an einen kleinen Alu-Gartentisch. Wer mit seiner Aufgabe nicht weiterkommt und Hilfe braucht, schreibt seinen Namen an die Tafel. Eine ältere Schülerin schreibt dann ihren dazu und bietet so ihre Unterstützung an. Das läuft völlig selbstverständlich. Überall auf den langen, kargen Fluren trifft man auf solche Lerninseln.

Die Lernbüros wurden erst vor zwei Jahren eingeführt. Isabelle, 12, aus der 5a findet es gut, so selbständig zu lernen, weil „man den Stoff wiederholen kann, wenn man ihn im Unterricht nicht verstanden hat“. Und es fällt ihr leichter, eine ältere Schülerin zu fragen als einen Lehrer. Sechstklässlerin Pauline sagt: „Lernbüro ist wie Hausaufgaben machen – nur in der Schule“. Sie freut sich, dass sie nach 16 Uhr Zeit für ihre vielen Hobbys hat – so lange dauert der Ganztagsunterricht. Pauline turnt im Verein, spielt Cello, sie singt, tanzt und reitet. Von den Älteren sind nicht alle begeistert: Paula, 16, mit kleinen silbernen Totenköpfen als Ohrstecker, sagt: „Ich finde es manchmal nervig, wenn man ein Thema hat, das man nicht so mag.“ Schulsprecherin Sophia findet es schwierig, dass sie sich in Mathe den Stoff teilweise allein erarbeiten soll. „Dafür werden doch eigentlich die Lehrer bezahlt.“

Die Lehrer gehen gelassen mit der Kritik um. „Bei den Lernbüros gehen die Meinungen auseinander – auch bei den Lehrern“, sagt Gabriele Halligan. Manche Kollegen würden am liebsten alles kontrollieren, erzählt die Deutschlehrerin. Im Lernbüro geben sie aber die Kontrolle an die Schülerinnen ab. Sie selbst ist begeistert: „Die Altersmischung ist toll. Ich habe noch nie erlebt, dass eine ältere Schülerin einer jüngeren nicht hilft. Anschließend kommen beide strahlend wieder in das Klassenzimmer.“ Das Kollegium bleibt bei seinem Konzept, entwickelt es stetig weiter. Eineinhalb Jahre haben die Lehrer an den vielfältigen Materialien für die Lernbüros gearbeitet, aber sind noch nicht zufrieden: In den Schränken, in denen die Ordner mit Arbeitsmaterialien aufbewahrt werden, hängen Zettel. Auf denen notieren die Lehrer ihre Verbesserungsvorschläge. Und in Zukunft soll es auch noch Lernbüros für Erdkunde, Französisch und Physik geben.

„Wir tun schon viel“, sagt Lehrerin Halligan. „Nicht weil es verordnet wird, sondern weil wir das wollen. Dabei ist es für uns manchmal ein ziemlicher Spagat: Wir versuchen hier Schule anders zu machen, aber das bayerische Schulsystem schreibt uns vor, dass wir Tests und Exen schreiben müssen.“ – „Würgematerial“ nennt sie diese Prüfungen. Der pensionierte Lehrer Vollmar beobachtet: „Die haben hier Spaß an ihrer Arbeit und sind von 8 bis 17 Uhr an der Schule – ich bin ja noch so ein 8 bis 13 Uhr-Lehrer. Die Kollegen haben ein völlig neues Selbstverständnis.“ Sie arbeiten im Team, beobachten sich gegenseitig im Unterricht. Lehrerin Susanne Schöttl holt sich zum Beispiel bei den Naturwissenschaftlern gezielt Anregungen für ihren eigenen in den Fächern Englisch und Geschichte.

Physik-Unterricht in der neunten Klasse: Yvonne, Francisca und Kalbinur experimentieren mit Magneten und notieren die Ergebnisse. Die 16-jährige „Kalbi“, wie sie genannt wird, trägt ein braunes Kopftuch, sie kommt aus Kasachstan. 47 Prozent der Schülerinnen haben einen Migrationshintergrund. Viele muslimische Eltern sehen es gern, wenn ihre Töchter nur mit Mädchen lernen. Schulleiterin Espermüller-Jug ist das gar nicht recht, ihre Schülerinnen sollen ein modernes und aufgeklärtes Frauenbild bekommen.

Jedes Mädchen wird respektiert und gefördert. „Als ich auf die Schule kam, waren meine Mitschülerinnen viel weiter in Französisch als ich“, erzählt Yvonne. „Als mich die Lehrerin das erste Mal ansprach, habe ich überhaupt nichts verstanden. Ich habe angefangen zu weinen. Wie peinlich! Aber meine Lehrerin hat mit mir in der AG-Zeit Französisch wiederholt. Jetzt habe ich eine Zwei.“ Und statt Grammatik und Vokabeln zu lernen, kann sie am Dienstagnachmittag Theater spielen.

Yvonne ist keine Ausnahme. Während der AG-Zeit sitzt die stellvertretende Schulleiterin Simone Schild an einem silbernen Tisch auf dem Flur vor ihrem Büro und übt zusammen mit zwei Schülerinnen aus der zehnten Klasse Mathe für die Abschluss-Prüfungen. 70 Prozent der Mädchen gehen auf eine weiterführende Schule, auch Yvonne will nach der Mittleren Reife auf die „FOS“ gehen, die Fachoberschule. „Auch wenn es hier Jungs gäbe, die Schule wäre trotzdem gut“, sagt sie. „Weil wir anders sind als andere Schulen, viele neue Sachen ausprobieren. Und deshalb sollten wir den Schulpreis kriegen!“